Bin ich der einzige, …

oder die einzige, (#SovielZeitmusssein), die dies und jenes sieht, erkennt, begreift?

Das ist einer der Lieblingsausrufe bei Twitter.

Zum Beispiel:

Bin ich der Einzige, der sieht, dass die Verteidigungsministerin outfitmäßig nicht zu ihrem Job passt und eher wie eine gutmütige Oma statt wie unser Kriegshäuptling[1] guckt.

Oder:

Bin ich der Einzige, dem dieser Dauersonnenschein schon jetzt Ende März auf den Sack geht?

Alles freut sich über den Frühling. Aber für so einen grundmumpeligen Menschen wie mich ist das eine Zumutung. Das Wetter ist jetzt schon wie in der Wüste, nicht gut für die Augen oder die Haut, und wenn das so weitergeht, wird Brandenburg die europäische Kalahari.

Wir wollen Sonne statt Reagan, sang einst Joseph Beuys. Umgekehrt wird ein Schuh draus!

Ich will Regen, ich will Wolken, Matsch auf den Wegen und Aquaplaning, wenn ich Auto fahre.

Auto fahren. Auch so ein ausschleichendes Vergnügen, klimaschädlich, macht kaum noch Spaß, sind viel zu viele Autofahrer unterwegs.

Endzeitstimmung.

DER DEUTSCHE will nichts sehen, nichts hören, und wenn er was hört, will er sich darüber aufregen.

Selbstkasteiung. Wie früher, als die Gegend hier noch der Osten war.

Gestern gab es bei Twitter die Frage:

Gibt es eigentlich etwas bei uns, an dem wir keinen Mangel leiden?

Ach du liebes bisschen!

Da fiel der/die Deutsche über sich selber her, dass es eine Art hatte.

Arroganz und Überheblichkeit, Juristen und Beamte, Desinteresse und Gefühlskälte, alles Mögliche wurde da im Überfluss verortet, niemand sagte, wo, bei sich selber eher nicht, weil man ja, siehe oben, meistens der Einzige ist, der das sieht.

Und ich tröte mit diesem Satz in dasselbe Horn, weil ich diese Form der Selbstkasteiung geißele.

(Ich finde das milde witzig: die Selbstkasteiung geißeln.)

Während ich dies schreibe, schrubbt unten einer mit einem Eimer Wasser und einem Besen ein Backsteinmäuerchen, auf dass es in der Sonne glänze, wahrscheinlich ein in der Betriebskostenabrechnung auftauchender Beauftragter der Hausverwaltung, der gerade nicht weiß, wie er sonst seine Existenzberechtigung nachweisen soll.

Muss ich mich darüber lustig machen?

Gestern bin ich an einem eher von Zugewanderten bewohnten Häuserblock entlangspaziert, da sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen[2], da war aber auch deutlich mehr Leben, da saßen die Leute vor ihren Hütten, tranken und schwatzten, Kinder spielten Fußball auf der Straße. Ich fälschte, als ich vorbeilief, einen Schuss unhaltbar ab, weil der Ball halt an meinen Fuß prallte. Ein paar jubelten. Ich machte eine entschuldigende Geste.

Einer entschuldigte sich, dass der Ball mich getroffen hatte und wurde dafür für eine Sekunde bierernst, deutsch eben.

Ich winkte begütigend ab und ging weiter, nicht mehr meine Welt.

Es ist ein Weltenwechsel, wenn man unter der S-Bahn-Brücke Wollankstraße vom Wedding nach Pankow läuft. Man muss laufen, sonst kriegt man das nicht so mit.

Dort sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa, und hier schrubbt einer das Backsteinmäuerchen.

Bin ich der Einzige, der das sieht?


[1] Oh oh oh!!! Häuptling – wahrscheinlich ist das Wort schon von seiner Ursprungsübersetzung her ein von Rassismus durchtränktes Diminutiv. Linge sind im Deutschen kleine Däumlinge, Pfifferlinge, Erdlinge und Fieslinge. Gibt aber auch Darlinge. Dann gibt’s davon noch nicht mal eine weibliche Ableitung, eine Rippe sozusagen, eine Häuptlingin. Gibt nur die Häuptlingsfrau. Aber das wäre dann die Squaw. Wo auch immer dieses Wort jetzt herkommt…

[2] Blöder Vergleich gerade, aber meine Mutter benutzte den Vergleich gerne, wenn sie der Meinung war, wir sollten mal wieder aufräumen.