Zu wenig Zeit für zu viel dicke Bücher

Diese Geschichte mit dem Losen wird langsam absurd. Seit dem letzten Mal haben sich über siebzig Leseproben auf meinem Kindle angesammelt, die alle in die Lostrommel müssen. Als Letztes eine Empfehlung meines aktuellen Helden Ilko Sascha Kowalczuk, dem ich auf Twitter (X) folge, und der gerade Jens Siegert „Wohin treibt Russland?“ in einem Thread empfohlen hat.

Wie soll ich mich nicht dafür interessieren. Russland hat mein Leben bestimmt. Mein Großvater ist da im Krieg geblieben. Das politische System, in dem ich aufgewachsen bin, stammte von da. Und Putin führt es in gewissem Sinne wieder fort: ein von Wachsamkeit (manche nennen es Paranoia) gesteuertes Herrschaftssystem nach dem Motto jeder guten Hausfrau: Nichts anbrennen lassen, aber trotzdem schön am Kochen halten.

Weiter darf man die Metapher nicht treiben, denn sie hinkt erheblich.

Walter Ulbricht und Andy Warhol

Derzeit lese ich, und das ist völlig außerhalb jeden Losverfahrens, von Kowalczuk den ersten Band seiner Walter-Ulbricht-Biografie. Das tut gut.

Walter Ulbricht ist für mich in meiner Kindheit ein in verschiedenen Farben gehaltenes Porträt auf den Standard-Briefmarken gewesen.1 Mehr als das war er nicht. Halt der Staatsratsvorsitzende. Als ich zehn war, kam schon Erich Honecker. Da ward von Ulbricht kaum noch gesprochen. Wie das bei uns so zuging: heldenhaft und gut war immer nur der aktuelle Führer.2

Kowalczuk holt diesen Ulbricht3 aus der Anonymität der Briefmarken-Bilder und der Heldengeschichten und macht einen Menschen aus ihm, mit einer Vorgeschichte. Es ist für mich eine lustvolle (in gewisser Hinsicht masochistische) Dekonstruktion der Märchen, die wir aufgesogen und natürlich auch bis zu einem gewissen Grade geglaubt haben.4

Ich bin ungefähr auf Seite 570, was 30% des ersten Bandes umfasst. Was bringt es mir, das zu lesen? Warum macht es mir solchen Spaß, die Märchen meiner Jugend durch den Schredder zu jagen?

Ich weiß es nicht. Im Grunde kommt heraus, dass man keinem Bild, dass das eigene Gehirn für eine bestimmte Sache produziert, für bare Münze nehmen darf.

Parteiarbeiter und Bürokrat

Mit dieser Biografie entsteht das Bild eines Mannes, der vom frühen Erwachsenenalter an ein Parteiarbeiter, in gewissem Sinne also ein Bürokrat gewesen ist. Kowalczuk beschreibt ihn als fleißig und akkurat, durchaus auch als ehrliche Haut. Aber er hat halt bei dem ganzen Intrigenspiel an vorderster Front mitgemacht, einem Spiel, das ständig nur damit beschäftigt war, Abweichler ausfindig zu machen und abzustoßen (später dann zu erschießen); das die Sozialdemokratie als den Erzfeind erkoren und identifiziert hatte und damit am Ende ein Zusammengehen gegen die Naziherrschaft unmöglich machte.

In ihrer Detailversessenheit beschreibt die Biografie die Nöte einer Bewegung, die angetreten war, die Geknechteten zu befreien, in ihrer Konsequenz aber dahin geriet, sie nur noch schwerer zu knechten. Es scheint ein Problem aller kommunistischer Parteien gewesen zu sein, dass man sich, weil das große Ziel klar und ohne Zweifel dastand, sich über den besten Weg dahin bis aufs Blut zerstritt.

In meiner Jugend waren diese Kämpfe, diese Intrigen, nur geraunte Geräusche, nebenher fallengelassen, halb im Wegdrehen, als sollte man den Rauner nicht erkennen: die erste Hälfte der Zwanziger, da gab es Abweichler, Ruth Fischer, Brandler, Maslow. Gab nicht nur Thälmann.

Nun fange damit mal einer was an! War ja nicht so, dass man die damals hätte googeln können. Außerdem hatte ich andere Sorgen, Pickel, Mädchen, ihr wisst schon.

Immer auf der „richtigen“ Seite

Ulbricht hat es geschafft, immer irgendwie auf der „richtigen“ Seite zu stehen (bis er von Honecker entmachtet wurde). Beim Lesen gewinne ich den Eindruck, dass das daran gelegen haben könnte, dass er wie Stalin ein Organisationsmensch war, der Mann, der sich unentbehrlich gemacht hat. Wäre er wie Stalin ein Menschenfresser geworden? Auf der einen Seite hatte er nicht die Chance dazu, weil er schließlich Stalins Sklave war. Auf der anderen Seite bin ich erst auf Seite 570, also Ende der zwanziger Jahre. Wer weiß, wen er alles ans Messer geliefert hat?

Kowalczuk ist der Mann der Fußnoten. Er ist ein Quellenfresser, Historiker eben. Es ist beeindruckend, wie er es schafft, das Material so zu präsentieren, dass es sich flüssig liest. Ganz en passant bekommt man eine halbe Geschichte der KPD und eine viertel Geschichte der Komintern mitgeliefert.

Kowalczuk und ich

Zu Kowalczuk müsste ich eigentlich ein ablehnende Haltung haben. Er bezeichnet meine derzeit geliebte Berliner Zeitung als Berlinskaja Prawda, meine geschätzte Sahra Wagenknecht als Propagandistin Putins, aber ich kann ihm nicht anders als mit Respekt begegnen.

Außerdem verbindet uns ein ähnliches „Schicksal“, mit nur marginal unterschiedlichem Verlauf. Beide waren wir in jungen Jahren Offiziersbewerber. Ich sollte zum Fliegeringenieurtechnischen Dienst nach Löbau gehen, ich hatte mir sogar schon ein Buch gekauft, in dem erklärt wurde, wie und warum ein Flugzeug fliegt. Aber dann haben wir mit dem Offiziersbewerberklub die Offiziershochschule der Grenztruppen in Plauen besucht. Dieser Tag wird mir ewig als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem ich begriff, dass das Militär nichts für mich ist. Mir war regelrecht übel. Und ich wollte raus.

Ilko ging es ähnlich.

Aber während mir ein gütiges Schicksal unter die Arme griff in Form einer medizinischen Untersuchung, bei der herauskam, dass ich untauglich bin, musste Ilko seine frisch erwachte Ablehnung selbst durchkämpfen, was einige unschöne Szenen zur Folge hatte, die ihn in die Opposition trieben.5

Lohnende Lektüre

Seine Ulbricht-Biografie ist jedenfalls für jeden Interessierten eine lohnende Lektüre. Und selbst, wenn man es auf den ersten Blick nicht glauben mag, hat sie viel mit dem Hier und Jetzt zu tun. Denn auch, wenn der Kommunismus als hehres Ziel unter den Tisch gefallen ist, bleiben doch die Methoden seiner (Putins) Herrschaft die, die er beim KGB, oder wie der Verein zu der Zeit gerade hieß, gelernt hat. Man lese Nawalnys Autobiografie „Patriot“, dann versteht man, was ich damit sagen will.

Mir bleiben im ersten Teil nur noch schlappe tausend Seiten für reichlich vierzig Euro, aber man kriegt was geboten für sein Geld.


  1. Jetzt, da ich das schreibe, kommt mir als Assoziation Andy Warhols Monroe-Porträtgalerie in den Sinn. Walter-Ulbricht-Briefmarken wurden schon ab 1961 herausgegeben. In gewissem Sinne waren wir da also Andy Warhol voraus. ↩︎
  2. In einer Demokratie scheint das anders zu sein. Da werden eher die Alten verklärt, der aktuelle Führer taugt immer nichts. Nur bei Mutti ist das anders. ↩︎
  3. und auch Thälmann (Maßlos gequält und gepeinigt, blieb er uns treu und hielt stand!) ↩︎
  4.  Besonders die einfachen Geschichten haken sich bekanntermaßen in den Gehirnsynapsen eindrücklich fest, wie Thälmann, selbst aus bescheidenen Verhältnissen, seine Wurststulle mit den noch ärmeren Kindern geteilt hat. ↩︎
  5.  Ostdeutschland: das Brennglas unserer Welt – Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Hotel Matze – sind nur schlappe 2 h 44 min. ↩︎