In der New York Times nahmen sie einen Satz von AOC1 zum Aufhänger, um über dieses eigenartig überkommene Demokratiemodell zu reden, das einem schlussendlich nur die Wahl zwischen zwei Parteien, zwei Kandidaten lässt, auch wenn sie einem beide nicht gefallen. The winner takes it all. Man denkt dabei schnell an den Abba-Song, aber es ist das uralte angelsächsische Wahlprinzip.

Biden oder Harris, Harris oder Trump. Es läuft immer auf so einen Showdown hinaus. Das mag in einem Western nett anzuschauen sein, wie Gojko Mitic mit stoischer Miene dem ständig im Gesichtsausdruck mäandernden Rolf Hoppe das Messer in die Brust wirft, um kurz darauf erschossen zu werden, aber für eine Wahl ist es unbefriedigend.

Zur letzten Präsidentenwahl habe ich gedacht, immerhin gibt es am Ende eine(n), die/der dann die Macht hat. Aber die NYT findet doch Manches, was daran fatal ist, besonders weil in den letzten Jahren der Ton rauer, die Kompromissfähigkeit geringer und die Wagenburgmentalität stärker geworden ist. Es wird auf die Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter verwiesen, die die These vertritt, dass die Mehrheit der Bürgerkriege im letzten Jahrhundert in Ländern mit dem The-winner-takes-it-all-Systemen ausgebrochen ist.2

Sie beginnt mit Nigeria, wozu ich nach meiner Lektüre von Adichies Erzählungen und dem Roman „Americanah“ so etwas wie eine Beziehung gewonnen habe, aber sie verweist auch auf Nordirland, wo die Katholiken keine Chance auf eine vernünftige parlamentarische Teilhabe sahen, auf Kenia, Venezuela und andere Länder mit ähnlichem politischem System. Und für die USA sieht sie die Gefahr von bürgerkriegsähnlichen Zuständen eben auch.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Amerika ohne große Disruptionen eine grundlegende Änderung des Wahlrechts gibt. Das erlebe ich nicht mehr. Irgendwie hat diese High-Noon-Nummer ja auch was.

Mit unserem Wahlsystem wird man doch müde. Ich habe null Ahnung, wen ich diesmal wählen „soll“. Am liebsten würde ich mir ein Tortendiagramm wählen, also wie ich die Aufteilung des Bundestages gerne hätte. Weil ich immer wieder denke, die Zusammensetzung des Bundestages spiegelt meine eigene innere Verfasstheit.

  • Ich bin schon konservativ, will nicht so viel Veränderung, aber eine gelungene Energiewende fände ich cool. Also schwarz-grün. Meinetwegen auch die FDP, aber das muss nicht.
  • Ich finde aber auch, dass man die Macht des Kapitals und seine Freiheiten beschränken muss. Es darf nicht jeder mit seinen zusammengeklauten Milliarden Berlin zuscheißen mit hässlicher Architektur, die sich keiner leisten kann. Die Annehmlichkeiten, die mir der Computer, mit dem ich dies schreibe, die mir mein Handy bieten, darf nicht darin münden, dass Microsoft auf ewig weiß und gegen mich verwenden kann, was ich hier schreibe, oder dass Amazon mir immer noch vorhalten kann, dass ich vor mehr als zwanzig Jahren mal eine PUR-CD bei ihnen bestellt habe. Das Gesundheitswesen und die Pflege müssen für Beschäftigte und Kunden menschlicher und entschleunigt werden, für die Gewinne, die dort erzielt werden, braucht es ein Transparenzgesetz, mit dem „ich“ (also „der Wähler“) rauskriegen kann, auf welchen Bahamas am Ende die ganze Kohle landet, die in das System fließt. Also doch eine Mischung aus SPD, Linke und BSW.
  • Und ich bin dafür, dass der Zuzug von Menschen gesteuert wird, dass wir da in erster Linie auf unsere Interessen schauen. Und wütend bin ich auch manchmal und irrational. So 11% AfD wären schon okay. Also ich sage mal: innerlich bin ich 11% AfD.
  • Und dann hätte ich gerne noch eine Reformkraft, die neue Wege aufzeigt und gesellschaftliche Diskussionen zu grundlegenden Veränderungen anstößt, wie das Thema „Rostendes Geld“ und Bodenreform. Denn dass in Berlin sich die Bodenpreise in wenigen Jahren verfünffachen können, ohne dass das eine politische Reaktion hervorruft, finde ich nicht in Ordnung. Ich hätte also gerne 23% InWo, Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung nach Silvio Gesell, der im Zins (und Zinseszins) und im Privateigentum an Grund und Boden die Krux der modernen Zeiten, aber auch die Lösung sah.

Damit hätte ich 66% altes Parteienspektrum, wenn ich BSW mal dazuzähle, aber da es eine Abspaltung von den Linken ist, geht das wohl. Ich hätte 11% AfD für den Wutfaktor, der mich manchmal befällt. Und 23% für eine grundlegend neue, reformorientierte Kraft, die mal paar grundsätzliche Fragen zum Wirtschaftssystem aufwirft, in dem wir leben und die Chance erhält, sinnvolle Diskussionen dazu zu führen und an eine breitere Öffentlichkeit zu bringen.

Und wenn ich jetzt in die Wahlkabine gehe und auf meinem Stimmzettel so ein Tortendiagramm male, dann müsste doch die heutige Computertechnik in der Lage sein, daraus ein Wahlergebnis zu zaubern. Oder?

Aber nein, dann wäre meine Stimme ungültig.

Oder wenigstens müsste es doch möglich sein, Prozentzahlen hinter jede Partei zu schreiben für alle, die nicht malen wollen. Ich fände, das wäre eine gute Weiterentwicklung des derzeitigen Systems. Diese Festlegung auf eine Partei ist unbefriedigend.

Nicht nur das Land ist gespalten! Ich bin es auch!

Bliebe nur die Frage, wie hoch der Anteil der Wähler ist, die in der Lage sind, da auf 100% zu kommen.

Und die Amerikaner könnten sich unser unvollkommenes Zwischensystem sparen.


  1. Alexandria Ocasio-Cortez – ich kenne nicht viele Kongressabgeordnete, aber sie ist mir eine Herzerwärmerin – und sie hat gesagt, … nicht gesagt, sondern „she groaned. In any other country, Joe Biden and I would not be in the same party, but in America, we are.“ In jedem anderen Land würden Joe Biden und ich nicht in derselben Partei sein, aber in Amerika sind wir es. ↩︎
  2. The New Yorker 24.8.2024, Democracy Needs the Loser by Barbara F. Walter
    Winner-take-all system – Wikipedia – in 80 Ländern gilt das Prinzip. ↩︎