Das Konzept, zwei Stunden still in einem Saal zu sitzen und einer Pianistin zuzuhören, ist schon eigenartig. Trotzdem tut man es immer wieder.

Worin liegt der Genuss?

Daran erinnert zu werden, dass man einen Tinnitus hat, der beim Zuhören besonders an den Piano-Stellen oder wenn es kurz still ist, besonders auffällt; dass man einen Schnupfen hat, aber böse angeschaut wird oder sich das zumindest einbildet, wenn man nach einem Taschentuch greifen muss; was macht Klaviermusik mit mir?

Die Pianistin war toll. Eine korpulente Frau mit einem weiten, bequemen Kleid, die ich für eine Lehrerin gehalten hätte, alles an ihr strahlte für mich den Stolz einer Sowjetbürgerin aus. Tatsächlich ist sie Georgierin. Ich habe sie so alt wie mich geschätzt, dabei ist sie 45er Baujahr, also 79 Jahre alt, in dem Alter ist meine Mutter gestorben. Und hat ein Konzert hingelegt zwei Stunden, zwei Klaviersonaten von Franz Schubert, und dann noch zweimal Arnold Schönberg dazwischen, der mir persönlich besser gefallen hat. Und immerzu denke ich, Du musst das jetzt hören und genießen, aber dann kratzt es im Hals, wenn man an der Schwelle zu einem Infekt steht und man muss ständig Speichel produzieren und runterschlucken, damit die Kehle feucht bleibt und der Hustenreiz verschwindet. Dann wandern die Gedanken. Dann schläfert einen das Adagio ein. Und da vorne sitzt eine 79-Jährige, die hochkonzentriert ist. Das ist wie Leistungssport. Es reicht für ein Konzert im Pierre-Boulez-Saal nicht aus, technisch keine Fehler zu machen. Die Musik soll leben. Jeder Anschlag muss stimmen, hart oder zart, nur angedeutet und beiläufig oder fordernd und vordergründig, laut oder leise oder etwas dazwischen. Der ganze Körper arbeitet mit. Und man darf sich zwischendurch keine Pause gönnen oder etwas nachlassen oder schlampig über eine schwere Stelle gehen. Das merkt man ja. Bei Arnold Schönberg könnte man es noch als Teil der Musik sehen. Bei Schubert ist das schon schwieriger.

Aber das passiert nicht. Diese Frau, 79 Jahre alt, spielt die zwei Schubert-Sonaten auswendig, bei Schönberg braucht sie Noten, die sie selbst weiterblättert. Alles atmet alte Schule.

Aber darum soll es nicht gehen, dass ich es bewundere, dass eine so alte Frau noch so ein Konzert hinlegt, nur sie und der Flügel. Das ist kein Zirkus. Sie ist kein dressierter Affe. Es geht doch um die Musik!

Aber die Musik berührt mich nicht.

Der Schubert ist mir irgendwie egal. Was immer er ausdrücken wollte, es erreicht mich nicht. Schönberg schon eher. Der spiegelt die klirrende Uneinigkeit der Zeit, die Uneinigkeit der Gesellschaft, die abgehackten Dissonanzen der sich gegenseitig anschreienden Menschheit, nicht laut und offen, sondern verborgen und immer wieder abgebrochen. Nichts wird da zu Ende gefochten, man setzt einen Stich und zieht sich wieder in sein Schneckenhaus zurück.

Weder Schubert noch Schönberg sind in ihrer Musik gefällig.

Was sie eint, sind die Brüche, bei Schubert empfinde ich sie als harmonischer. Sind sie auch. Aber nichts bleibt hängen, da war nichts, was ich jetzt nachsingen könnte oder was mich als Ohrwurmschnipsel durch die nächsten Tage trägt. Das Erlebnis, der Genuss muss in dem Moment, im Hier und Jetzt bzw. im Vorhin stattgefunden haben.

Weder Schubert noch Schönberg sind erhebend, wie es Beethoven ist. Oder gefällig wie Mozart. Oder gar schwülstig wie der olle Wagner. Während des Konzerts treten mir keine Tränen in die Augen, wie es mir jedes Mal bei der Neunten Symphonie geht oder den ersten Tönen der West Side Story. Die Musik fast mich nicht ans Herz. Es ist eher etwas für Kenner, der ich nicht bin.

Ich staune über die Tonkonglomerate, die man so einem Klavier entlocken kann. Wie die Töne nachhallen, wie das bodenlange Kleid der Pianistin sich bewegt, ab und an ein Schuh hervorlugt, wenn sie die Pedale bearbeitet, wie sie spielt mit kleinen Koloraturen, die so zart wie Murmeln eine Treppe hoch- und wieder runterrollen. Ich staune über den sauberen Klang in diesem Pierre-Boulez-Saal. Ich beobachte die Leute, viele Alte, aber auch Junge dabei, bei asiatischen Gesichtern denke ich immer, die müssen selbst Virtuosen sein.

Und dann denke ich, dass Klavierspielen gut gegen Demenz sein soll,

dass ich schon lange diese eine App runterladen und mal wieder spielen wollte. Aber was heißt bei mir schon spielen?

Da hat ein Typ vor zweihundert Jahren Noten aufs Papier gekritzelt und dann finden sich hunderte Leute in diesem zauberhaften Saal ein, um einer Meisterin zuzuhören, die sie perfekt spielen kann. Eine Nachricht aus einer vergangenen Zeit, aber was sagt sie mir. Dass Schubert eine Leichtigkeit in sich hatte, die er immer wieder brach, weil gefühlt keine gefällige Passage zu Ende geführt, sondern immer von schweren Akkorden unterbrochen wird. Es gibt da keine Entwicklung wie bei Beethoven, wo die Bässe das Thema Freude, schöner Götterfunken am Anfang ständig unterbrechen, aber schließlich setzt es sich durch und triumphiert.

Aber gerade dieser Triumph einer großen Idee

ist doch in der Menschheitsgeschichte eher das Problem gewesen. Ist nicht die Akzeptanz einer immer wiederkehrenden Leichtigkeit, unterbrochen von depressiven Schüben, die Lösung, statt des Strebens nach immerwährendem Glück, was auf eine Art auch deprimierend wäre.

Im Hier und Jetzt sein heißt, nach dem Konzert sich jeder bewertenden Einordnung zu enthalten. Jedes gesprochene Wort zerstört den Nachklang, weil Worte Musik nicht erklären können, allenfalls in einer Vorlesung.

Lustig ist bei Musik auch das Konzept des in ein Programmheft Schauens. Was nützt es mir als Laien zu wissen, dass ich Schuberts Klavierkonzert a-Moll oder D-Dur höre. Und mir beim nochmaligen Nachschauen auf Wikipedia klar wird, das es kein Klavierkonzert ist, sondern eine Sonate. Wie dumm von mir.

Aber schön hat sie gespielt.

Ich weiß nicht, wo der beste Ort ist, eine Klaviersonate nachzuhören, ob meine Samsung-Earbuds dafür das Mittel der Wahl sind, und der Berliner Nahverkehr der passende Ort, es mal zu probieren.