In https://www.theatlantic.com/ hat Anne Applebaum zusammen mit einem Herrn Pomerantsev eine Serie angefangen, in der es darum geht, woran man merkt, dass eine Diktatur im Anmarsch ist: nämlich, wenn man sich gezwungen sieht, Unsinn von sich zu geben, etwas wider besseres Wissen zu sagen, zu schreiben, um weiterhin dazuzugehören.

Ich weiß ungefähr, wovon sie da sprechen.

Zu DDR-Zeiten musste man, wenn man sich zu einem Thema äußerte, immer den Bezug zum letzten oder dem achten Parteitag herstellen oder vorneweg einen der drei Klassiker zitieren. Als erstes Beispiel fällt mir ein, dass wir im Studium ein Fach hatten, das „Warenkunde“ hieß, in dem wir Wissen anhäuften wie z.B., dass Holz in Festmetern und nicht in Kubikmetern gemessen wird. Die Sinnhaftigkeit des Faches, und dass es für das große Projekt Sozialismus/Kommunismus von entscheidender Wichtigkeit ist, wurde daher abgeleitet, dass Karl Marx zu Beginn seines Hauptwerkes „Das Kapital“ erwähnte, dass die konkreten Ausformungen der „Ware“, deren abstrakten Erforschung er sich im „Kapital“ ausführlich widmete, einem besonderen Fach, nämlich der „Warenkunde“ vorbehalten sei.

So war das überall.

Wenn man ein Klassikerzitat fand, das das eigene Anliegen unterstützte, stiegen die Chancen, dass man bei der Obrigkeit ein offenes Ohr fand.

Applebaum und Pomerantsev finden Belege überall, dass ausgerechnet in den USA, dem Mutterland der Freiheit, eine Autokratie im Anmarsch ist, weil man, um heutzutage in der GOP zu reüssieren, absurde Dinge behaupten muss, um weiterhin dazuzugehören, z.B. was die Menschenmengen auf Trump-Veranstaltungen betrifft, die Frage, ob die Wahl 2020 gestohlen worden ist oder jetzt meinetwegen, ob Haitianer den Leuten die Haustiere wegfressen.

Man kann als Außenstehender Trump beim Entstehen der Lügen förmlich zuschauen.

Pomarantsev vergleicht das mit Russland,

wo man heutzutage nichts gegen den Ukraine-Krieg sagen darf, ohne Gefahr zu laufen verhaftet und/oder aus dem Staatsdienst entfernt zu werden. Die große absurde Lüge ist es, die man glaubhaft reproduzieren muss, um seine Unterwürfigkeit kenntlich zu machen, damit der Diktator weiß, wer unter allen Umständen zu ihm hält. Denn wenn ich die große, absurde Lüge zu meiner Wahrheit mache, suche ich unwillkürlich nach Belegen dafür, dass sie auch wahr sein könnte. Das ist keine Erfindung der Neuzeit, schon bei Wilhelm Tell mussten die Gesslerschen Hüte gegrüßt werden.

Der Begriff des demokratischen Zentralismus war beispielsweise so ein Konstrukt, zu dessen Rechtfertigung auch mein Hirn einst einige Klimmzüge veranstaltet hat. Dabei bin ich als Mensch, der in den späten Siebzigern und in den Achtzigern seine Politisierung erlebt hat, schon die fünfte bis achte Generation nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, je nachdem, wie man den Begriff der Generation definiert. Tausende bis Millionen vor mir haben schon begriffen, dass es alles Lügen waren.

Es steht mir also nicht zu, mich über andere zu erheben,

die einem Menschen wie Trump auf den Leim gehen. Und als alter(nder) Marxist glaube ich sowieso und immer noch, dass der ganz große Betrug jenseits des Polittheaters stattfindet, dass er mit dem Finanz- und Rechtssystem zu tun hat, in dem wir wie selbstverständlich leben, als wäre es das Wasser und wir die Fische, die darin schwimmen und nicht herauskönnen, ohne in die Pfanne gehauen zu werden.

Tröt tröt, Metaphernalarm! Metaphernalarm. Feindliche Metapher hat den Text gekapert.

Ich schätze es sehr, weitgehend frei denken und schreiben zu können,

weil ich aus irgendeinem unerfindlichen Grund das Schreiben liebe. Ich darf sogar schreiben, dass ich finde, dass es uns eigentlich gut geht. Dass wir durch die beängstigenden und eigenartigen Krisen der letzten Jahre ganz gut durchgekommen sind. Dass wir offenbar beim Umstieg auf erneuerbare Energien Fortschritte machen. Dass in der Gesundheitsbranche und in der Gastronomie und in der Pflege und in vielen anderen Bereichen eine Menge zugewanderter Menschen einen guten Job machen. Es waren Peruaner und Briten (!), die mir bei schweren Erkrankungen zweimal das Leben gerettet haben.

Klar gibt es Sachen, die mich aufregen:

dass Deutschland offenbar zu einem Geldwäscheparadies geworden ist. Dass der Computer das Leben zwar einfacher machen soll, unsere vereinigte Juristengilde aber dagegenhält und alle Vorschriften so verkompliziert und mit immer neuen Ideen anreichert, dass alles nur immer unübersichtlicher und unmenschlicher wird. Dass man deswegen andauernd Bedingungen zustimmt, die man nicht durchschauen kann. Dass man nicht weiß, wer am Ende aller Ketten die ganze Kohle (und die damit verbundene Macht) einsackt, die wir so überreichlich ausgeben.

Schließt sich so der Kreis zu der Frage, ob wir auf eine Diktatur zusteuern?

Sind die AfD oder die Rassemblement National, die FPÖ oder die Fidesz, die PIS oder die Fratelli d’Italia die Gefahr für die Demokratie – oder ist es die Brüsseler Bürokratie, die ständig neue Vorschriften ausspuckt, weil eine Bürokratie nur so ihre Existenzberechtigung beweisen kann? Noch mache ich mir keine Sorgen, wenn ich eine solche Frage aufschreibe.

Man wird doch wohl noch fragen dürfen.

Aber wer weiß, eines Tages. Und das Internet vergisst nichts. Wie Snowden und der sowjetische KGB gesagt haben: Permanent record. Хранить вечно. Aufbewahren für alle Zeit.

Einem künftigen Diktator (oder einer Diktatorin, so viel Zeit muss sein) wird überreichlich Material vorliegen, um die Spreu vom Weizen zu trennen.