Ein Lesebefehl wird erteilt, wenn ein Buch Elemente von Offenbarung enthält, unterhaltsam geschrieben und mir ans Herz gewachsen ist.
So geschehen mit Hanna Lakomys Roman „Begabung usw.“ Roman? Es fühlt sich eher an wie eine Lebensbeichte. Aber es muss ja Roman genannt werden, weil nur so das Element der Erfindung, das mit Sicherheit enthalten ist, unterstellt werden muss. Ganz zauberhaft in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Passage, in der sie ihren Tanz mit Don Alphonso beschreibt, wo es immer darum geht, was sie noch schreiben darf und was nicht.
An Hanna Lakomy bin ich über eine Kolumne in der Berliner Zeitung geraten.
„Rendezvous mit einem Rechten“. Die Überschrift fand ich interessant, und der Name Lakomy machte mich neugierig. Ist sie etwas die Tochter von dem Und-ich-geh-in-den-Tag-Lakomy? Ja, ist sie. Mein Fehler, dass sie mir erst dieses Jahr als Autorin über den Weg lief. Mag sein, es liegt daran, dass ich die Berliner Zeitung erst kürzlich für mich wiederentdeckt habe, und Hanna Lakomy vorher bei der Welt unter einem Pseudonym Kolumnen schrieb. Dort hatte sie den Tanz mit Don Alphonso und der ganzen Männerwirtschaft.
Unter der oben erwähnten Kolumne in der Berliner Zeitung bewarben sie bzw. die Zeitung ihr neues Buch, geschrieben mit Florian Havemann (obwohl ich mich beim Lesen ständig gefragt habe, was sein Anteil gewesen sein soll, so persönlich kommt es rüber). Ich habe es mir außerhalb der Reihe (sprich: des Lostopfes) gekauft, als Papierausgabe, denn mein Kindle hat es nicht angeboten.
Ich fing an zu lesen und konnte nicht mehr aufhören.
Die Geschichte handelt von einer jungen Frau in Geldnot, die auf eine Annonce reagiert, mit der eine Künstlerin nach jungen Frauen suchte, von deren Muschi sie einen Silikonabdruck machen kann, weil die Muschi, die im Buch oft einfach als V bezeichnet wird, ihr Lebensthema ist, die Muschi und davon abgeleitet die Raute. Die Künstlerin namens Isolde entpuppt sich als eine kein Blatt vor den Mund nehmende Lesbe.1 Die beiden verlieben sich ineinander, führen so etwas wie eine Beziehung, wenn auch nicht im klassischen Sinne.
Diese Isolde ist des literarischen Ichs Begleiterin und Counterpart auf dem Weg ins Geldverdienen mittels Sugardaddy Manfred (Mann-Fred) und später als Escort-Service-Dame, wie man den Beruf der Sexarbeiterin bzw. Prostituierten in gehobenen und viel Geld bezahlenden Kreisen nennt.
Allein die Beschreibung der Reise mit dem Sugardaddy an „den märkischen See“ in die „Fontanestadt“ zwecks gemeinsamen Verbringens eines Wochenendes in der dortigen Therme und Zurschaustellens einer „normalen Eroberung“ ist die Lektüre wert. Aber nicht nur die. Die Emails, die zwischen Isolde und der Hauptheldin hin- und hergehen, oder wie Isolde des Sugardaddys Frau Gabi verführt und sie an die Freuden der Liebe zwischen Frauen heranführt, sind köstlich, nicht im erotischen Sinne, tatsächlich erregende Stellen gibt es im Buch nur sehr wenige, und naturgemäß wird die Erregung immer wieder durch den Blick zweier abgeklärter Frauen gebrochen. Es ist einfach gut geschrieben, witzig und traurig in einem. Obwohl traurig es nicht mal trifft. Ich unterstelle da keine Traurigkeit, da ist nur gnadenlose Klarheit und Offenheit. Gnadenlos?
Die Männer
kommen in dem Buch nicht besonders gut weg. Aber von den Männern handelt das Buch auch nur am Rande. Es handelt vom Weg einer Frau in das erwachsene Leben, das in ihrem Fall der Weg in den Escort-Service und das Kolumne schreiben geworden ist. Es lohnt sich, bis zum Ende dranzubleiben. Nicht, dass es unterwegs Passagen gäbe, durch die man sich quälen müsste, im Gegenteil. Aber am Ende gibt es noch so eine erklärende Begebenheit. Aber was heißt schon erklärend? Es tut dem Leser gut, eine Erklärung geliefert zu bekommen, warum es ein solcher Lebensweg geworden ist.
Das größte Vergnügen bestand darin, dass ich an keiner Stelle das Gefühl hatte, verarscht oder mit billigen Erklärungen abgespeist zu werden, das Buch strahlt Wahrhaftigkeit geradezu aus. Und wenn sie „mich“ verarscht hat, dann in einer Art, die es verlohnt, sich verarschen zu lassen.
Wunderbar
sind Isoldes Ausschweifungen zum Thema Intimrasur und ihre diesbezüglichen Differenzen mit Alice Schwarzers „Emma“, die nur deshalb die Intimrasur schlecht gemacht haben, weil sie nie zugeben wollten, dass selbige der Frauenliebe wegen etwas Gutes und durchaus Feministisches ist. Begriffe wie „lesbischer Urkommunismus“ oder „Das Trauma des ausgebliebenen Missbrauchs“ geistern durch das Buch, denn die Autorin und Isolde selbst sind ausgereifte Psychologinnen, die sich gegenseitig viel und geistreich analysieren. Wunderbar sind die Beschreibungen der Ausflüge in die Welt der Restaurants der Reichen, in einen Swingerclub, wo die Ich-Erzählerin und ihr Sugardaddy auf die von Isolde dorthin entführte Frau des Sugardaddys treffen.
Das ganze Buch hat eine Qualität, die mich in der Klarheit und Schonungslosigkeit an Houellebecq erinnert.
Claas Relotius gewidmet
Das Wort „Mach mir den Relotius“ taucht immer wieder auf. Ich weiß nicht, ob es ein Hinweis darauf ist, dass doch mehr erfunden ist als man nach der Lektüre glauben mag, oder ob es beim Schreiben nicht doch immer wieder darum geht, Leerstellen der Erinnerung mit Erfundenem zu füllen, oder dass man sich nicht mehr sicher sein kann, was wirklich passiert ist (wie bei der Geschichte mit dem Interview in der Schweiz, weswegen sie ihren Job als Weltkolumnistin verloren hat), oder wie unser Gehirn uns schon während des Geschehens eine andere Geschichte erzählt als die, die gerade abläuft. Wer kennt das nicht, wie das eigene Assoziationssystem sich während einer Unterhaltung einen Erinnerungs-Dialog bastelt, oder ist es dann nicht ein Monolog?
Wäre Claas Relotius nicht „aufgeflogen“, wären all seine Geschichten immer noch wahr. Sein Problem ist doch, dass er sie dem „Spiegel“ verkauft hat, wo sie ein Faktenchecksystem haben. Diese Widmung am Ende hat mir gefallen, weil sie meinem eigenen Motto (sh. Startseite) so nahe kommt2.
Es lohnt sich übrigens, in der Berliner Zeitung ihre Kolumnen nachzulesen. Eine erfrischende Stimme in einer aufgerührten Welt.
- Ich darf das so hier schreiben, weil es sich um Zitate handelt. Heutzutage habe ich bei solchen klaren Begriffen oft das Gefühl, man dürfe sie nicht mehr benutzen. Eigentlich wollte ich im ersten Anflug Kampflesbe schreiben, aber das erschien mir dann doch zu despektierlich, auch wenn der Begriff von besagter Isolde bestimmt verwendet worden ist. ↩︎
- Worte schaffen Wirklichkeit. Sie müssen sich nicht immerzu darum scheren, sie getreulich abzubilden. ↩︎