Heute bin ich auf eine seit 2010 existierende Seite gestoßen, über die Washington Post. Der Name der Website leitet sich lt. Auskunft auf der Seite selbst von dem Telefon-Code ab, mit dem man sich durch Israel und Palästina wählen kann1.

Und schon kommt die Frage: warum treibt es mich, ausgerechnet zu diesem Minenfeld etwas zu schreiben, auf dem man sich nichts als Ärger einfangen kann, weil die, die meine Meinung teilen, mir nicht beistehen werden, wenn die, die sie nicht teilen, mich im günstigsten Fall mit Scheiße zuschütten. Ich weiß es nicht, offen gesagt.

Die Seite heißt: www.972mag.com. Sie wird von israelischen und palästinensischen Journalisten gemeinsam betrieben, was ich mir im Moment auch nicht leicht vorstelle. In dem sehr langen Enthüllungsartikel2 geht es darum, dass die israelische Armee künstliche Intelligenz einsetzt, um Ziele für ihre Bombardements auszusuchen, und dass die Ergebnisse dieser Auswahl weitgehend kritiklos angewendet werden bei einem akzeptablen Verhältnis von auszuschaltender Zielperson zu Kollateralschaden (also mit getöteten Zivilisten) von 1:15 bis 1:20, bei hochrangigen Zielen bis zu 1:100.

Der Artikel ist ziemlich deprimierend,

weil er die Automatismen beschreibt, die bei einer ins Laufen gekommenen Kriegsmaschinerie greifen, die sich außerdem für ein vorhergehendes Versagen rehabilitieren will.

Eine Sprecherperson3 der israelischen Armee dementiert die Darstellungen in dem Artikel, der sich auf mehrere, nur mit Buchstaben bezeichnete, Gewährsleute bezieht, die mit den Zuständen bei der Zielauswahl nicht mehr leben konnten oder der Meinung waren, die Öffentlichkeit müsse davon erfahren.

Aber selbst wenn die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt, ist das alles äußerst deprimierend. Weil man sich fragen muss, welche Verhaltensweisen einen im Ernstfall zu einer von einer KI ausgewählten Zielperson machen können, die dann ausgeschaltet, also getötet wird, weil man einer bestimmten Gruppe oder einem Kanal bei WhatsApp oder sonst wo angehört, oder seine Adresse oder sein Handy öfter wechselt oder was auch immer. Man füttert den Computer mit Informationen über die Verhaltensweisen bekannter Terroristen bzw. Hamas-Führer, und dann schaut man, wer sich noch so verhält und schlussfolgert daraus, dass diese Person auch ein Terrorist sein muss und getötet werden darf.

Ich habe diesen Beitrag zunächst per Hand in ein Heft geschrieben,

mit einem altertümlichen Fineliner-Stift, der keine Verbindung zum Internet hat, zumindest keine, von der ich wüsste. Es scheint die letzte Möglichkeit zu sein, etwas Geschriebenes bei sich zu behalten. Aber es entfaltet dann halt auch keine Wirkung4. Ich hätte es abfotografieren und ins Netz stellen können, hoffend, dass meine Sauklaue auch von einer Schrifterkennungs-Software nicht entziffert werden kann. Aber wer sollte das dann lesen? Und schon, wenn ich es nur abschreibe, landet es auf OneDrive. Weil uns unsere Computer ja nicht mehr wirklich gehören – und unsere Daten schon gleich gar nicht.

Von jetzt ab ist klar, dass dieser Text für alle absehbare Ewigkeit Teil meines persönlichen Abdrucks im WWW sein wird, und einer Ziel-Auswahl-KI zur Verfügung stünde.

Die Lektüre des o.g. Artikels führt einem, abgesehen von der Grauenhaftigkeit des aktuellen Geschehens, glasklar vor Augen, dass es vor diesen Mächten da draußen, die die Datenströme überwachen und Zugriff darauf haben, keinerlei Privatsphäre gibt. Eine solche wäre nur noch herstellbar über den totalen Verzicht auf die Segnungen der modernen Technik. Und selbst dann gibt es eine Gesichts- oder Gangerkennungssoftware5 oder was auch immer.

Und wenn mich eines Tages eine intelligente oder eine blöde Bombe trifft, hat das nichts damit zu tun, dass ich wichtig war oder mich wahrgenommen fühlen darf (für die letzte Zehntelsekunde meines Lebens). Ich habe einfach Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die einer mit Algorithmen gefütterten KI das Rechenergebnis potenzielle Zielperson6 entlockten.

Oft denke ich, dass es dieses ganze Israel-Palästina-Problem gar nicht mehr gäbe,

wäre nicht 1949 die Flüchtlingsorganisation UNRWA gegründet worden,

die den Status eines palästinensischen Flüchtlings über Generationen alimentiert, was zu einer Verzehnfachung der Flüchtlingszahlen geführt hat, nicht weil mehr Leute geflohen wären, sondern weil die Flüchtlinge Nachkommen hatten, und diese wieder Nachkommen usw., als wären die palästinensischen Flüchtlinge eine Behörde, die sich aufbläht, einfach weil es sie gibt und sie finanziert wird. Flüchtling in fünfter Generation, was für ein Absurdistan. Nach der Logik müsste auch ich heute noch in einem Lager für Flüchtlinge aus Schlesien und von den Almosen leben, die die Alliierten für mich übrig haben. Denn das wäre die dazu passende Analogie.

Daher ist UNRWA in meinen Augen von Anfang an der institutionalisierte Antisemitismus. Sie sorgt dafür, dass das „Palästinenserproblem“ den Israelis erhalten bleibt.

So, nun habe ich diese Meinung aufgeschrieben, die in mir lebendig ist – und was nützt das? Nichts. Weil über dieses Thema nicht ruhig und entspannt geredet werden kann, schon gar nicht lösungsorientiert. Weil die Kräfte, die das Problem als solches erhalten wollen, irgendwie zu stark sind. Wahrscheinlich auf beiden Seiten.7

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  1. The name of the site is derived from the telephone country code that can be used to dial throughout Israel-Palestine. ↩︎
  2. ‘Lavender’: The AI machine directing Israel’s bombing spree in Gaza (972mag.com) ↩︎
  3. a spokesperson ↩︎
  4. Die Zeiten, da der siebte Schreibmaschinendurchschlag noch eine Geheimdienstoperation wert war, sind lange vorbei. Man denke an Wassili Grossmanns Roman „Leben und Schicksal“, der verschollen und vergessen wäre, hätte es nicht den siebten Durchschlag gegeben. ↩︎
  5. Mein Handy bietet mir aus meiner Galerie mittlerweile von mir fotografierte Gesichter an, und wenn ich darauf klicke, durchsucht es all meine Fotos nach dieser Person. Ist schon cool, auf eine Art. ↩︎
  6. So wie diese Karteikarte, die über mich bei der Stasi angelegt worden war: potenziell gefährliches Element. ↩︎
  7. Den Artikel habe ich am 7.4.2024 geschrieben. Und dann gedacht, dass es nicht allzu viel Sinn macht. Aber da ich ihn heute (2.7.2024) erneut lese, finde ich ihn doch ganz passabel. ↩︎