Heute habe ich in der FAZ einen sehr schönen, vor bildungsbürgerlicher Selbstverliebtheit strotzenden, glossenhaften Artikel mit dem Titel „Die letzte Vorstellung der Ampel“ im Feuilleton gelesen. Scholz ist darin einer, der erst Stärke zeigt, als es zu Ende geht; Lindner repräsentiert „Gravitas auf Steroiden“, der sich feuern lässt statt zu gehen, weil er nicht als Königsmörder dastehen will; Habeck bleibt der träumende Held, der meint, es müssten nur bessere Umgangsformen her, um den verfluchten Haushalt auf die Reihe zu kriegen; Wissing ist Jago, der jedem Herren dient, solange es ihm dienlich ist; März ist Fortinbras aus „Hamlet“, der die Leichen wegschaffen lässt, mit denen er doch morgen wieder koalieren muss; und unser Hindenburg heißt Steinmeier, der als Koryphäe für ein paar Wochen den Vorsänger gibt.

Männer mit zu weiten Kragen

Diese Vergleiche mit Shakespeare, Bildungsbürgertum in jedem Satz! Ich liebe es. Alles schon mal dagewesen. Mir gefällt auch, dass Lindner am schlechtesten wegkommt. Dabei fällt ihm vielleicht nur auf die Füße, dass er am wenigsten von allen wie ein erwachsener Mann aussieht, was mir für ihn leidtut. Er sieht immer aus wie ein Junge, den irgendwer zu früh in einen Anzug gesteckt hat. Man trifft solche jungen Männer manchmal auf der Straße, auf einem Fahrrad oder in der U-Bahn, wenn sie zu ihren Jobs nach dem zweiten Staatsexamen in die Kanzleien, Banken oder Ministerien fahren, zwischen Hals und Kragen genügend Luft, um eine Hand dazwischen zu schieben und mit neuen, schwarzen Lederschuhen Größe 47.

Es könnte auch seine nörgelnde Ernsthaftigkeit sein. In jedem Kommentar erinnert man sich an seinen Besser-nicht-als-schlecht-regieren-Abgang aus den Jamaika-Koalitionsverhandlungen von vor sieben Jahren. Und ich weiß noch, wie ich damals gedacht habe: das überlebst du (politisch) nicht. Es ist diese Ich-weiß-es-besser-Attitüde, diese leicht an Wochenschausprecher erinnernde Stimme, wenn er prinzipiell wird. Nun ist er immerhin vier Jahre oder wie lange Finanzminister gewesen. Das muss für die Annalen reichen.

Und wie kann sich Deutschland dem allgemeinen konservativen Rechtsruck auf Dauer verweigern. Ist halt jetzt vorbei für eine Weile mit links-grün-versifft1, mit passiv-aggressivem Vordrängeln im Bioladen und dann das Portemonnaie nicht finden. Man steht sich nichts aus, man hat ja jetzt eine Eigentumswohnung in bester Innenstadtlage, die nimmt einem auch eine CDU-AfD-Regierung nicht weg.

Es war nicht alles schlecht

Es ist wie die Gegenreformation nach der Reformation, oder die Kulturrevolution nach den hundert blühenden Blumen Maos. Eine Weile guckt man sich das Wüten der „Progressiven“ an und dann wird es einem zu viel, weil man bis LGBT noch mitgekommen, bei LGBTQI oder spätestens beim + ausgestiegen ist. Ich gebe zu, dass die Analogien etwas bemüht sind, weil wir trotz allem hoffen, dass es friedlich bleibt, was weder bei der Gegenreformation noch bei der Kulturrevolution der Fall gewesen ist. Und ich hoffe auf das berühmte Augenmaß einer neuen Regierung. Wie der Ossi zu sagen pflegt: es ist nicht alles schlecht gewesen. Das gilt auch für die letzten vier Jahre.


  1. Ich finde das Wort so treffend. Es beschreibt schon im Klang, was es meint. Und es scheint wirklich zu existieren, weil Word keine rote Kringellinie drunter macht. Ich frage „meinen“ Microsoft-Co-Piloten und bekomme folgende Antwort: „Das Wort „versifft“ stammt ursprünglich aus der deutschen Umgangssprache und hat seinen Ursprung im mittelhochdeutschen Wort „sifen“, was „schäumen“ oder „schmieren“ bedeutet. Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung und der Gebrauch des Wortes weiterentwickelt und wurde schließlich zu „versiffen“, was so viel wie „schmutzig werden“ oder „verdrecken“ bedeutet.
    Im modernen Sprachgebrauch beschreibt „versifft“ etwas, das stark verschmutzt oder unhygienisch ist. Es hat eine negative Konnotation und wird oft verwendet, um etwas oder jemanden als ungepflegt oder vernachlässigt zu beschreiben.“
    Dann habe ich noch nach Quellen gefragt. Der Duden stellt eine Verbindung zu Syphilis her, und Siff wäre auch von Syph abgeleitet. ↩︎