„Mein Leben – Versuch einer Autobiografie“ von Lew Dawidowitsch Trotzki

Was wäre, wenn … Trotzki in der Zeit von Lenins Schlaganfällen nicht krank gelegen hätte, wenn er mit mehr Mut dem Trio aus Kamenjew, Sinowjew und Stalin entgegengetreten wäre und um seinen Führungsanspruch nach Lenins Ausfall gerungen und vielleicht den Sieg davongetragen hätte. Heute zu diesem 80. Jahrestag der Befreiung beschäftigt mich diese Frage, weil ich gerade eine Lektüre nachhole, die schon lange auf meinem SuB lag, Trotzkis „Versuch einer Autobiografie“.

Es ist eine erquickende Lektüre.

Sie macht mir wieder mal bewusst, in welchem Märchenwald ich aufgewachsen bin. Als hätten all die Geschichten vom Hirsch mit dem goldenen Geweih, den Abenteuern im Zauberwald, und Feuer, Wasser und Posaunen und Timur und sein Trupp mir ankündigen sollen, dass ich in einem Märchenwald aufwachsen würde.

Die größten Märchen wurden bei der eigenen Geschichte erzählt. Lenin war immer diese Lichtgestalt, dann kam der Große Vaterländische Krieg und dann Breschnew. Stalin? Who the fuck was Stalin?

Ich kann mich nicht erinnern, dass in meinem Geschichtsunterricht Trotzki eine Rolle gespielt hätte. Allerdings wundert mich das nicht.

Meine Mutter war Geschichtslehrerin,

jedenfalls phasenweise. Ich liebte meine Mutter. Aber für Geschichte hat sie sich nicht wirklich interessiert, vielleicht aus Selbstschutz. Und für die Geschichte der Arbeiterbewegung schon gleich gar nicht. Ich glaube mich zu erinnern, dass die Zeit, da in der Schule die Geschichte der Arbeiterbewegung auf dem Lehrplan stand, mehrfach von ihr die Ankündigung kam, dass man da sehr tapfer sein müsse und ein gewisses Durchhaltevermögen bräuchte, so langweilig wäre das. Und so war es auch. Hängengeblieben ist, dass Thälmann seine Wurstbrote mit den noch ärmeren Kindern seiner Klasse geteilt hat und von den Nazis (die wahrscheinlich ihre Wurstbrote allein gefressen haben) im KZ umgebracht wurde. Verkürzt gesprochen.

So war die Art, wie wir die „eigene“ Geschichte präsentiert bekamen. Trotzkisten waren allenfalls komische Typen in Westdeutschland. Sektierer.

Eigenartig aktuelle Lektüre

Das Buch ist gerade heute, da Putins Russland wieder auf den guten alten Stalinismus mit kapitalistischem Antlitz zurückgreift, eine eigenartig aktuelle Lektüre. Man erfährt viel über die Gründe für Stalins Aufstieg, sicher aus der Sicht eines Beteiligten, aber gerade in Stalins und seiner Epigonen Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus sieht man die Blaupause für das System Putin.

Es ist flott geschrieben,

voller pointenreicher Betrachtungen zur Psychologie von Revolutionären, und ich wünschte mir, das Buch wäre mir schon 1980 in die Hände gefallen. Dann hätte ich es mit dem Grusel des Verbotenen gelesen.

Hätte es mein Leben verändert? Wahrscheinlich nicht.

Denn so gern ich ihn lese, so wenig war, bin oder werde ich ein Revolutionär sein. Man darf sich da keiner Selbsttäuschung hingeben. Ich bin Beamter, qua DNA staatstreu. Das muss was mit Botenstoffen im Gehirn zu tun haben. Ich war staatstreu in den Achtzigern, ich bin es heute, und wahrscheinlich wäre ich es auch vor hundert Jahren gewesen und hätte überall nach Trotzkisten gesucht, die ich bekämpfen kann.

Und auch wenn es eine olle Kamelle ist und man sich fragt, warum ich gerade jetzt damit um die Ecke komme,

Es gibt Bücher, die altern gut.

Und das ist so ein Buch. Es hat kurze schwache Momente, wenn er parteitheoretisch wird, aber das ist Gott sei Dank nicht so oft, meist erzählt er spannend. Und man kann so Sachen erfahren: dass die Bauern ein mit Teer beschmiertes Netz aus Pferdehaaren über dem Gesicht gegen die Mücken trugen, dass er die Temperatur nicht in Celsius oder Fahrenheit, sondern in Reaumur gemessen hat, dass in der Schneewüste Alkohol das am besten funktionierende Zahlungsmittel ist und dass er schon damals hinter den mächtigen Zahlen der deutschen Sozialdemokratie den Schatten der Ohnmacht verspürte.

Was wäre, wenn …

Und ich kann nicht umhin, wenn ich heute, am 9. Mai 2025, dem Tag des Sieges in Moskau auf dem Roten Platz die Militärparade sehe und Putins Rede höre, hinter ihm Xi Jinping, mich zu fragen, wohin sich die Sowjetunion entwickelt hätte, wenn Trotzki den Kampf gegen Stalin und seine Truppen angenommen hätte. Wenn er nicht freiwillig den Posten des Kriegskommissars geräumt hätte. Joffe, so zitiert Trotzki ihn aus dessen Abschiedsbrief, warf ihm seine fehlende Unbeugsamkeit und Unnachgiebigkeit vor. Dass er nach Lenins Tod seine Machtposition zu leicht hergeschenkt hatte, weil er nicht gegen die eigene Partei kämpfen wollte. Vielleicht hätte es den Großen Vaterländischen Krieg gar nicht geben müssen, denn weder hätte es einen Hitler-Stalin-Pakt gegeben noch wäre die Sowjetarmee so geschwächt und aller Führung beraubt dagestanden wie 1941 unter Stalin. Es würde heute keinen in Stalinscher Tradition stehenden russischen Regierungschef geben, weil es keine Stalinsche Tradition gäbe.

Das gute alte sinnlose Was-wäre-wenn-Spiel.

Ich könnte dann hier nicht sitzen und schreiben, weil meine Mutter nicht aus Schlesien vertrieben worden wäre und meinen Vater nicht kennengelernt hätte. Ich fände das schade, aber ich sehe ein, dass nur wegen mir der Zweite Weltkrieg bisschen viel Aufwand war.

Lenin hätte auch dran glauben müssen

„N.K. Krupskaja hat im Jahre 1927 einmal gesagt, daß Lenin wahrscheinlich längst in einem Stalinschen Gefängnis säße, wenn er noch leben würde. Ich glaube, sie hatte recht. Denn es handelt sich ja nicht um Stalin, sondern um die Kräfte, deren Ausdruck Stalin ist, ohne es selbst zu begreifen.“

Warum lese ich so etwas mit so viel Freude und Gewinn?

Weil diese Zeit und dieser Kampf mein Leben in einem Maße geprägt hat, wie ich es in der Zeit, als diese Prägung geschah, nicht hätte begreifen können. Weil ich „Partisanen vom Amur“ noch heute singen kann. Vier Strophen aus dem Kopf sind mir eben bei einem Selbstversuch noch eingefallen. Красные мстители, die Roten Rächer. Heute sagt man „Avengers“. Aber was ist der Unterschied? Im Namen des Guten die Welt in Schutt und Asche legen. Man weiß nicht, ob man mit Trotzki besser dran gewesen wäre. Man weiß es nicht. Grausamkeit ist kein Privileg der Dummen.