Robert Gernhardt schrieb :

„Mit dem letzten Glockenton

ging der Biber in Pension,

und die Zeit, die ihm noch blieb,

folgte er dem Lustprinzip.“

Einer der schöneren Verse 1Ich liebe Gedichte, die sich reimen, die mir ihre Musikalität im Versmaß aufzwingen..

Aber was ist das Lustprinzip?

Vor längerer Zeit habe ich beschlossen, alle Bücher, die ich geschenkt bekomme, auch zu lesen … wegen der Leselust.

Das war so eine Form des mich Einlassens auf die Vorstellung, dass die Menschen sich etwas dabei gedacht haben könnten mit dem, was sie mir schenkten. Ich sammelte also alle diese Bücher an einem Ort, einem Regalmeter, und nahm mir, wenn eines ausgelesen war, von links das nächste.2Ich lese immer mehrere Bücher gleichzeitig, also auch selbst ausgewählte Bücher.

Dann kam mein 60. Geburtstag.

Ich hatte die glorreiche Idee, mir von jedem Gast ein Kunstwerk zu wünschen, das ihn/sie in den letzten Jahren/Jahrzehnten am meisten beeindruckt hat. Es waren am Ende 47 Stück, davon 30 Bücher, die auf dem Geburtstagstisch lagen. Ich bin glücklich und schaue voller Erwartung auf all diese zwischen Buchdeckeln versammelten Welten.

Wenn ich gut bin, lese ich im Jahr 35 Bücher, da sind 30 Bücher eine übersichtliche Angelegenheit, sollte man meinen.3Übrigens nur sechs Autorinnen und 24 Autoren (20% Frauen – und das ist spontan entstanden. Die Schenkerinnen waren mit 37% zwar in der Minderheit, aber auch von ihnen haben mir sieben (64%) ein Buch eines männlichen Autors geschenkt, eine ein selbst geschriebenes Buch. Auch da also nur 30% Autorinnen.

Aber da waren ja auch noch die ungelesenen geschenkten Bücher von davor. Und siehe da – es kamen noch einmal 39 dazu, macht summa summarum 69 Bücher.

Nun wollte ich die geschenkten Bücher vom 60. Geburtstag nicht rechts hintenanstellen, damit sie darauf warteten, in fünf Jahren dranzukommen. Das wäre bei dem Rummel, den ich darum gemacht habe, unhöflich gewesen.

Was also tun, um all diesen Büchern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen?

Eine Lostrommel.

gefaltete Lose

Losen fühlt sich gerecht an. Wenn jemand fragt, ob ich sein oder ihr Geschenk schon mal in die Hand genommen hätte, kann ich ohne schlechtes Gewissen auf das Losglück verweisen.4Seit meinem Geburtstag habe ich siebenmal gelost, das siebte fange ich gerade an, davon sind vier mir von meiner Frau geschenkt worden, das sind 57%, weiß nicht, was mir der Los-Gott damit sagen will, eins von ihrer Tochter, eins vom Vater dieser Tochter und eines von meinem Sohn. Ich schwöre, dass ich beim Losen nicht geschummelt habe! Trotzdem eigenartig.

Eben lese ich Jan Philipp Reemtsma „Vertrauen und Gewalt“, eine soziologische Studie, die sich sehr flott anlässt.5Zitat vom Anfang: „Als Schopenhauer nach einer Formulierung suchte, die Bosheit des Homo sapiens durch eine Hyperbel zu veranschaulichen, und auf den Satz kam, ein Mensch sei fähig, einen anderen zu töten, um sich mit dessen Fett die Stiefel zu schmieren, fügte er hinzu, er bezweifle, dass es sich dabei wirklich um eine Hyperbel handele.“ Ebenda S. 14

Meine Frau konnte sich kaum noch erinnern, dass und warum sie mir dieses Buch geschenkt hatte, obwohl sie es mir vor sechs Jahren als sehr bedeutsam angepriesen hatte.

Aber genau das ist der Punkt. Sechs Jahre hat das Buch herumgestanden und gewartet. Wahrscheinlich hätte ich es nie gelesen, und mir wäre ein intellektuelles Vergnügen entgangen. Das Los hat es herausgehoben, und mein Fokus ist nun darauf gerichtet. Es ist eine perfekte Methode.6Das beste Buch aus dieser Siebener-Reihe war der Debütroman von Toni Morrison „Sehr blaue Augen“. Sie hat einen unglaublichen Schreibstil.

Ich habe mir eine Excel-Tabelle eingerichtet, in der ich den Namen des Schenkers, des Autors, das Jahr der Entstehung des Buches, das Land, in dem es spielt, eingetragen habe. Ist Arbeit, hat Spaß gemacht. Die Liste habe ich ausgedruckt, in Streifen geschnitten, die Streifen zu kleinen Schnipseln gefaltet und in eine Plastedose getan.

Naja, mag mancher denken, was man so an der Waffel haben kann. Nun sitze ich vor dem Geschenketisch und frage mich, was als nächstes drankommt. Ich freue mich am Anblick des Tisches und an den Aussichten, denn jedes Buch, jeder Film ist eine Welt.

Und dann dachte ich an meine armen Kindle-Bücher und ihr trauriges Schicksal in meiner Kindle-App. Siedend heiß traf mich meine Schuld an ihrem Los.

Als ich vor einigen Jahren bemerkte, dass mein Vorrat an elektronischen Büchern überhandnimmt,7In einem Jahr hatte ich tausend Euro für Bücher ausgegeben, ist nah am Kaufrausch. bin ich dazu übergegangen, nur noch Leseproben anzufordern und das Buch erst zu erwerben, wenn ich es tatsächlich lesen will. Aber auch die Leseproben waren zu einem stattlichen elektronischen Berg angewachsen.

Gekaufte Bücher und Leseproben zusammen auf dem Kindle ergeben 365 Bücher.

Wow.

Bei 35 pro Jahr ist das Stoff für ein Jahrzehnt. Die Erstellung dieser Tabelle hat schon etwas mehr Zeit in Anspruch genommen.

Und dann gibt es ja auch noch die Bücherregale, die sich über die letzten fünfzig Jahre angesammelt haben, in denen teils vor der Wende angeschaffte Bücher ihre Botschaft an Besucher, dass hier belesene Menschen wohnen, verbreiten. Wenn ordentliche alte Menschen wie meine Frau und ich zusammenziehen, verdoppelt sich das Aufkommen, ein Regal steht im Schlafzimmer, vier in den Arbeitszimmern, eins im Flur, eins im Wohnzimmer.

Ich habe von meinen nur die aufgelistet, die ich noch nicht gelesen habe. Das allein sind 436 Bücher, von Hamed Abdel-Samad „Der islamische Faschismus“ bis Stefan Zweig „Brief einer Unbekannten.

Dazu kommen die Bücherregale meiner Frau, von denen ich bisher eines (das im Schlafzimmer) erfasst habe. Das sind – festhalten – nochmal 596 Bücher. Da habe ich bestimmte Ecken gar nicht aufgeschrieben, wo es nur um Mondphasen und Yoga ging. Und es gibt Dopplungen, natürlich, in der Paulo-Coelho-Ecke zum Beispiel und bei den Erwerbungen aus DDR-Zeiten, aber nicht viele.8Sie hat einen höheren Anteil an Schriftstellerinnen als ich, 20% gegen meine 15%. Letztens habe ich das in einer Runde erzählt, wo ich die Theorie aufstellte, dass es wohl mehr Schriftsteller als Schriftstellerinnen gäbe und dass man da auch eine Quote einführen müsse. Aber mein Gesprächspartner meinte, das könne nur an meinen persönlichen Vorlieben liegen. Aber sowohl bei den geschenkten Büchern als auch bei meinen als auch bei denen meiner Frau ergibt sich ein ähnlicher Anteil.

Wie man sieht, hat sich das Problem (oder die Freude) ausgeweitet.

Ich habe jetzt also

Eine Lostrommel mit den geschenkten Büchern (und Filmen und Musik-CD’s) mit 84 Losen, von denen neun gelost sind.9Neben den Büchern der Besuch eines Basketballspiels von Alba und ein Bastelset für einen altertümlichen Filmprojektor.

Eine Losbox mit 365 Büchern mit allen gekauften E-Books und allen Leseproben. Die lese ich in der Bahn oder sonst unterwegs, falls mich mal jemand auf mein Handy starrend erwischt … ich lese! und

Eine Losbox mit 1.032 Büchern aus Papier für die Badewannen-10Das Vergnügen wird nun eher nicht mehr sein, wo wir Gas sparen müssen. und die Bettlektüre, für den Lesesessel und die ähm … Sitzungen.

Gerade bei den papierenen Büchern sind (noch) nicht alle erfasst. Außerdem habe ich ca. 200 noch nicht gesehene Film-DVD’s bzw. schon gekaufte Amazon-Filme in Losgläser getan, und ich habe die Idee, von den Unmengen Bildbänden eine Lostrommel zu füllen, so dass wir jeden Monat mal einen rausholen, auf das Stehpult legen, so dass man darin blättern kann, wenn man daran vorbeigeht.11Dort liegt seit Monaten ein Bildband Street-Art, eine Sammlung der schönsten Wandbemalungen und Grafitti in Berlin, das macht viel Spaß, darin zu blättern.

Die müsste ich aber noch erfassen.

Ohne Mathematik studiert zu haben, kann man leicht ersehen, dass das alles ein bisschen viel ist. In der Summe sind es bis jetzt 1.464 Bücher, geteilt durch 35 pro Jahr, was schon viel ist, sind 42 Jahre. Äh… aha. Oh Gott. … Na dann. Klingt nach einem Plan. Ist ja fast zu schaffen. Who would’ve thought? Wenn die Augen mitmachen… bin ein bisschen überrascht, hatte mehr geschätzt.12Als Lagerfeld starb, stand in einem Nachruf, dass er eine Bibliothek von 250.000 bänden hinterlässt. Dafür bräuchte man dann schon 7.142 Jahre.

Und ich muss sie ja nicht lesen. Letztens habe ich Stephan Hermlins „Äußerungen 1944 bis 1982“ aus der dritten Losdose (Papierbücher) gezogen, zu DDR-Zeiten erschienen. Ich will es so sagen: ich habe keinen Zugang gefunden, habe ihm aber auch nicht viel Zeit gelassen.13Ich vertraue zu DDR-Zeiten erschienenen Texten nicht mehr so recht. Gibt Ausnahmen. Günter de Bruyn zum Beispiel, Christa Wolf, Volker Braun. Zu DDR-Zeiten war ich Hermann-Kant-Fan wegen seiner Romane. „Die Aula“ war einfach ein Buch, das mich begeistert hat. Es war das Lachen. Ich habe bei diesem Buch Tränen gelacht. Aber heute … nach der Wende ist er zu einem Jammerlappen und einer Heulsuse verkommen. Tod eines Idols.

Denn ich bin immer gespannt, was ich wohl als Nächstes aus dem Lostopf ziehen werde. Und ziehen darf ich erst, wenn aus diesem Lostopf das Vorhergehende ausgelesen oder eben abgebrochen wurde.

Nach dem Hermlin kam Günter Grass „Die Blechtrommel“ aus der Losbox. Dem werde ich wohl eine faire Chance geben. Grass kenne ich noch nicht so recht.

Wäre ich doch sonst nie auf die Idee gekommen, so etwas nachzuholen. Nun „zwingt“ mich das Los.

Und es gibt noch so viel mehr, was man verlosen kann: das Ziel des nächsten Wochenendausfluges oder Urlaubs. Das Thema des nächsten Romans, den ich schreibe. Oder der nächsten Erzählung für die Lesebühne. Die eigentliche Arbeit besteht im Erstellen der Lostrommeln. Aber auch das ist lustig.

Von den knapp 1.500 Büchern stammt ein Drittel, also ungefähr 500, von 2000 und später. Wir sind dem modernen Literaturmarkt also durchaus zugetan.14von diesem Drittel sind es immerhin 27% Autorinnen und 3% gemischte Autorenduos, also „nur“ 70% Männer.

Ca. 550 Bücher, also ein reichliches Drittel, befassen sich mit oder spielen in Deutschland, davon ca. 64 (insgesamt 4%) in der DDR. Auf den Plätzen folgen USA (183), Sowjetunion/Russland 170, Frankreich 99 (eine Menge Balzac-Zola-Hugo usw., aber auch Houellebecq), England 80 (davon 34 Shakespeare-Dramen), die sonstigen Nachbarländer eher stiefmütterlich vertreten: Polen 8, Tschechien 5 (Kafka, Čapek, Kundera), Österreich 24, Schweiz 12 (davon 6x Suter), Luxemburg 0, Belgien 1 (ein Maigret), Niederlande 12 (4x Nooteboom) und Dänemark 6.

  • Afrika 15 – aber ich fürchte, da ist kein originär afrikanischer Autor dabei, eher Mankell und Blixen und sowas,
  • Amerika ohne USA 37 inkl. Isabel Allende und Gabriel Garcia Márquez,
  • Australien/Neuseeland 1x und das ist das Drehbuch zu Shine, obwohl ich auch „Traumpfade“ irgendwo zu stehen habe, aber das habe ich schon gelesen und deshalb nicht aufgenommen,
  • Naher Osten 36, da ist die Türkei mit bei und Römisches Reich, davon allein 15x Israel,
  • Asien 20,

Sonstiges 118, darunter Bücher, die die ganze Welt betreffen, Fantasy und Internet.

Das älteste Buch stammt angeblich von 850 vor der Zeitrechnung. Keine Ahnung, ob ich Ilias und die Odyssee wirklich lesen würde, wenn ich sie zöge. Dazu gibt es von vor Christi Geburt noch zwei Platons und einen Ovid, wobei es bei dem vielleicht auch schon nach Christi Geburt war.

Es sind ca. 874 verschiedene Autorinnen und Autoren, von Abdel-Samad bis Mikhail Zygar.

74 (Auto)biographien und Erinnerungen, 134 Erzählungen und Erzählbände, 25 Novellen, 25 Reiseberichte und Reportagen, ca. 600 Romane, 250 Sachbücher und Krimis, Thriller und was für kleinteilige Rubriken mir noch so eingefallen sind.

Derzeit lese ich auf dem Kindle Zarathustra von Nietzsche, eine schöne Spruchsammlung, mit so Weisheiten wie „Wir beißen niemanden und gehen dem aus dem Wege, der beißen will; und in allem haben wir die Meinung, die man uns gibt.“ Woher kennt mich Nietzsche? Das ist so die Art von Philosophie, die ich häppchenweise genieße, und bei der ich nur die Sätze begreife, die für mich geschrieben sind.

Aus der Geschenkebox lese ich den oben erwähnten Reemtsma „Vertrauen und Gewalt“, wunderbar geschrieben, geht darum, dass wir uns in unsere gesellschaftlichen Rituale fügen müssen, wenn wir akzeptiert bleiben und überleben wollen. Und ich finde, das betrifft den Mainstream genauso wie den oppositionellen Mainstream, anpassen muss man sich überall – auch ironiefrei. Ironie ist der Tod jeder glücklich machenden sozialen Interaktion. Bin erst auf Seite 70, die Passagen über Gewalt kommen erst noch.

Im Bett habe ich „Die Blechtrommel“ angefangen. Das scheint mir eine recht vergnügliche Lektüre zu werden und ein Versinken in untergegangenen Welten, denen man nachtrauern kann, aber nicht muss.

Im Sitzungsraum lese ich Günter de Bruyns „Zwischenbilanz“, bin nach einem halben Jahr nun fast durch. Eine Sitzung dauert ja höchstens drei Seiten. Habe mir aber schon die Fortsetzung „Vierzig Jahre“ gekauft, auf die ich sehr gespannt bin. Da beschreibt er sein Leben in der DDR – und ich vermute, es wird mit meinem Leben in der DDR nicht viel zu tun haben. Das war bei „Stern 111“ auch schon so. Vom Ort der dortigen Handlung habe ich nur ein paar Meter entfernt gewohnt. Schön, dass ich das alles nun nachlesen kann.

Und mein Badewannenbuch ist derzeit der dritte Band von Ken Folletts Jahrhundertsaga „Kinder der Freiheit“. Nicht dass es besonders gut wäre, aber es ist wie bei dem Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand: die Protagonisten sind immer am Puls der Zeit, gerade ist der Kennedy-Mord von 1963 dran, unterhaltsame Erinnerung, was im letzten Jahrhundert so alles passiert ist, wenn auch ohne China, ohne Afrika und ohne Lateinamerika (außer Kuba), aber dafür mit vielen bei Laune haltenden erotischen Aufmunterungen. 3x 1000 Seiten – fast fertig.

Hat was Loriot-haftes: drei Kartons mit hunderten Losen – und wozu? Um mein Gehirn bei Laune zu halten.

Ist wie beim Essen oder Trinken. Es muss nicht alles durch den eigenen Kopf, um am Ende im Gully (oder in der Altpapiertonne) zu landen. Das Buch des Herrn Hermlin wird, wie oben erwähnt, ohne Umwege dieses Ende nehmen.

Aber:

Wir haben viel gutes Zeug herumstehen. Klar könnte ich auch baden gehen oder spazieren oder mich besaufen, könnte eine Tanzschule besuchen oder einen Kletterpark, könnte auf eine Kreuzfahrt gehen, eine Safari unternehmen, mich zum Obst machen und surfen lernen wollen oder Fallschirmspringen. Man darf aber nicht vergessen: nun, wo die Bücher alle da sind, ist Lesen das klimaneutralste Vergnügen, das man sich gönnen kann.