ist doch nicht, dass man sie hat, sondern wie sie entsteht. Und wie es dazu kommt, dass man sie im Brustton der Überzeugung und manchmal mit hochrotem Kopf und überkippender Stimmer vertritt.

Gestern komme ich zu einer Diskussionsrunde dazu, es geht – mal wieder – um Annalena Baerbock. Ich habe lange keinen O-Ton gehört und kein O-Bild mehr von ihr gesehen. Da ich viel Zeitung lese (online natürlich) und viel im Internet unterwegs bin, entwickelt sich bei mir das Gefühl, sie wäre abgetaucht. Genug auf die Mütze bekommen. Sicher stimmt das gar nicht, die für mich bestimmten Algorithmen haben nur entschieden, dass Annalena nichts für mich ist. Wahrscheinlich haben sie meine Heiße-Schnitte-Vibes aufgenommen und beschlossen, dieser alte Baby-Boomer-Sack kriegt nur noch Bilder von Joe Biden zu sehen.

In dieser Diskussionsrunde regte sich einer wie oben beschrieben auf. Er bezeichnete sie nur als „diese werte Dame“ und die Argumentationskette ging darum, dass sie nichts gelernt habe und trotzdem die Welt belehren wolle. Irgendwas in der Richtung. Außerdem ging es um die 130.000-€-Visagistin, die sie angeblich ständig begleitet und darauf achtet, dass Annalena immer gut aussieht.

Mich fasst weniger der sachliche Gehalt der Aussage als vielmehr das Empörungslevel an, in dem der Ausführende gefangen ist. Sachlichen Einwendungen ist er nicht mehr zugänglich. Ich neige in solchen Momenten dazu, es mit einem Scherz zu versuchen, zum Beispiel so: aber wenn sie ungeschminkt irgendwo die Gangway runterkommt, fällt das auf dich zurück und dann regst du dich darüber auf.

Wieso fällt das auf mich zurück?

Er starrt mich für eine Sekunde konsterniert an. Dann kommt er immerhin wieder im berühmten Hierundjetzt an und begreift, dass es der Frank ist, der ihn bloß auf die Schippe nehmen will. Und ich habe das schöne Gefühl, etwas für den Augenblicksfrieden getan zu haben.

Nun meide ich selbst Annalena tatsächlich auch, weil ich bei ihr außer den Heiße-Schnitte-Vibes auch noch (als mittlerweile alter Ossi) die Ich-hab-immer-recht-FDJ-Sekretärin-für-Agitation-und-Propaganda-Vibes bekomme, von denen mir ein bisschen schlecht wird. Vielleicht weil ich die Sekretärinnen für Agitation und Propaganda nie abbekommen habe, ist was Sexistisches, bestimmt.

Wenn es um Annalena-Bashing geht, was, wie mir scheint, ein beliebter Volkssport geworden ist (weswegen ich die Gehälter und die Visagistinnen, die sie bezahlt kriegt, ganz okay finde), bin ich eher Fan von Thomas Fischer, dem alten Bundesrichter mit der zarten Stimme und der kantigen Meinung. Ich würde ihn zu meinem Meinungsführer und Sprecher ernennen, wenn ich Anspruch auf so etwas hätte.

Er packt Annalena umstandslos in eine Kiste mit Kaiser Wilhelm II.1Thomas Fischer „Schuldbekenntnisse von Politikern – Der fliegende Robert“ – Spiegel online 14.4.2023, was ich eine mutige Verknüpfung finde. Aber ihre Attitüde hat manchmal schon etwas von „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“

Das stammt zwar nicht von Wilhelm II., und auch nicht von einem Parteitag der Grünen, aber beide hätten es sagen können.

Wenn ich also an diesen zwei Beispielen meine Meinungsbildung bezüglich unserer Außenministerin betrachte, dann führt Nummer eins eher dahin, dass ich sie verteidige, während letzterer mich eher in die Arme der Göttin der Verachtung2Chat.openai.com sagt mir, dass es die Göttin der Verachtung gar nicht gibt. treibt, weil sie offenbar Sätze absondert, die ihrer Political Correctness und ihrer „gerechten“ Empörung eher geschuldet sind als einem nachhaltigen Überlegen.

So entstehen Meinungen, indem man sich einer anderen Meinung anschließt oder sich gegen sie stellt. Wie viele Menschen könnten schon von sich behaupten, ihre Meinung zu irgendwas dem direkten intensiven Studium und der kritischen Auseinandersetzung mit einer Sache oder einer Person selbst zu verdanken.

Mit Annalena Baerbock ist es ein bisschen wie mit Israel, finde ich. Jeder hat eine Meinung zu ihr. Warum? Weil es etwas gibt, das uns spiegelt, vielleicht etwas, das wir an uns selbst kennen und lieben (oder ablehnen)? Niemand3Es handelt sich um eine sprachliche Übertreibung. Es gibt bestimmt viele Menschen, die eine Meinung zu Lisa Paus haben. Deutlich mehr als zu mir zum Beispiel. Es geht nur um das Verhältnis zu Annalena in der sogenannten Gesamtbevölkerung. hat eine Meinung zu Lisa Paus4 Ich habe Chat GPT gebeten, mir eine Liste der Bundesminister zu geben, damit ich die Unbekannteste herausfischen kann. Da kam ein Scheiß bei raus. Selbst Philipp Amthor wurde da zum Bundesminister für Forschung und Bildung (Stand April 2023). Es scheint ein Paralleluniversum zu geben, in dem Philipp Amthor Bundesminister geworden ist. Everything, everywhere, all at once kann ich da nur sagen. Das Paralleluniversum, in dem ich ein bekannter und geschätzter Schriftsteller und Filmemacher bin, muss ich also nur noch finden. 😉. Genauso wie gefühlt jeder eine Meinung zu Israel und den Konflikten dort hat, aber „niemand“ eine Meinung zum Konflikt in Kamerun zwischen der eher frankophonen Mehrheit und der anglophonen Minderheit.5Früher hätte ich gesagt: musste ich auch erst googeln, aber nun frage ich Chat GPT und kriege druckreife Sätze als Antwort. Seit der Liste mit den BundesministerInnen bin ich da aber misstrauisch und checke das nochmal gegen.

Da die Meinungen der meisten Menschen, einschließlich meiner, wenig Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte haben, und man so eine Meinung eher braucht, um was zum Streiten zu haben oder sich über was aufzuregen, ein Bedürfnis, das wir im Alltag allzu oft nicht ausleben können, ist es weitgehend egal, wie sie ausfällt. Und so kann ich den einen Tag Annalena bewundern, wie so ein junger Mensch mit Chuzpe und Bravour die Welt versucht aufzumischen, und am nächsten Tag kann ich genau das völlig unangemessen finden. Wieviel von dieser Meinung dann damit zu tun hat, dass sie eine gutaussehende junge Frau ist6(Mein liebes Fräulein! Nimm dir nicht zu viel heraus!), steht auf einem anderen Blatt, das nächste (weite) Feld, auf dem man sich im Krieg der Meinungen austoben darf.

In diesem Sinne:

Zückt eure Meinungen,

die ihr euch bei Mr. Ollivander nach eingehender Prüfung kaufen durftet.

En garde!