Ein Mann meines Alters (Jg 1964), Sergej Gerassimow, Schriftsteller, beschreibt die ersten anderthalb Monate des Krieges in Charkiw, die rötlich schimmernde Nacht,

das Feuerpanorama, das Grollen der Artillerie,

die Raketen, die man fliegen sieht, wie man mit Plünderern umgeht (man zieht ihnen die Hosen runter und fesselt sie mit Klebeband an Laternenpfähle, wo dieser oder jener dann erfroren sein soll), wie er mit seiner Frau zur Wohnung seiner Eltern fährt, um die Stockrosen zu gießen, die zu groß sind, um sie zu versetzen; wie schwierig es ist, fünf Katzen aus dem achten Stock bei Luftalarm in den Keller zu bekommen, also im Grunde ist es unmöglich.

Er beschreibt seine Not mit Selenskyi,

den er für einen schlechten Komiker hielt („Ich mochte seine Witze nie, denn sie wiederholten sich, waren nicht immer anständig und handelten oft von Alkoholikern. … Seine Witze waren kein Ausdruck von Kultur, dazu fehlte ihnen das lebensverändernde Potenzial.“) und bis zum Krieg für einen schlechten Präsidenten, weil unter ihm sich nichts an der überbordenden Bürokratie und der Korruption geändert habe.

Er spricht über die Nazis,

die Putin vernichten will. („Die wenigen toxischen Nationalisten, die wir in der Ukraine noch haben, gebärden sich genauso wütend und laut wie alle toxischen Nationalisten überall auf der Welt.“) Das entspricht in etwa meiner Denke: der Anteil von Nazis an der Bevölkerung dürfte überall ähnlich sein. Und er stellt nüchtern fest, dass die Russen gegen Dinge kämpfen, die es gar nicht gibt.

Und er regt sich über Putin auf.

„Es ist einfach erwiesen, dass in den über zwanzig Jahren seiner Herrschaft keiner seiner Feinde und Gegner eines natürlichen Todes gestorben ist.“

Er schreibt über Einbrecher,

die gefälschte Anzeigen auf die Schlüssellöcher kleben. Wenn niemand sie abreißt, wissen sie, dass die Wohnung verlassen ist, und können sie ausrauben. Oder sie benutzen Drohnen. Er schreibt darüber, dass man die Länge einer Schlange nicht nach Metern oder Anzahl der Leute misst, die in ihr stehen, sondern nach der Zeit. „Die Schlange ist anderthalb Stunden lang.“ Er hat mäandernde Tipps gegen radioaktive Verseuchung im Angebot (größte Gefahr ist das radioaktive Jod, das von der Schilddrüse absorbiert wird, wenn man aber vierzig Tropfen gewöhnliches Jod schluckt, ist die gesättigt, und der Körper kann das radioaktive Jod nicht mehr ablagern.) Und er lässt sich über den

Unterschied zwischen Russen und Ukrainern

aus, wobei die Russen mit ihrem sadistischen Kadavergehorsam naturgemäß schlechter wegkommen als die aufsässigen, freiheitsliebenden Ukrainer. Aber an sich glaubt er, dass es überhaupt keine eindeutigen Nationen gibt, nur „… ein sanftes Gefälle sich verändernder menschlicher Eigenschaften.“

Er nennt das Imperialistische an Russland den

Russismus,

dessen Wesen darin besteht sich herauszunehmen, wahllos beliebig viele Leute für ein beliebiges Ziel töten zu dürfen.

Und er mutmaßt, dass bestimmte Grausamkeiten (Bombardierung einer Geburtsklinik in Mariupol) bewusst begangen werden, um den russischen Soldaten das Überlaufen auszutreiben, weil sie nach solchen Verbrechen nicht mehr auf eine freundliche Behandlung rechnen dürfen.

Er vergleicht das jetzige Russland mit der Sowjetunion, wo es das oberste Ziel eines jeden Lehrers gewesen sei, den Hass gegen irgendein ideologisches Schreckgespenst zu kultivieren, was im heutigen Russland wieder so wäre, denn Russland unter Putin sei nur eine verschlimmbesserte Version der Sowjetunion.

Und er reduziert das Wesen des Marxismus/Leninismus auf zwei Maximen: die aus der elften Feuerbachthese geborene Losung, es käme darauf an, die Welt zu verändern und auf den Schlachtruf: Unsere Doktrin ist allmächtig, weil sie wahr ist. Und diese zwei Glaubenssätze haben es „ihnen“ erlaubt, Gewissen und Mitgefühl einfach auszuschalten wie das Licht im Badezimmer.

„Es gibt den absoluten Nullpunkt der Temperatur, der bei -273,15 Grad Celsius liegt, … und es gibt den absoluten Nullpunkt des Mitgefühls, den ich Russismus nenne.“

„Die Leute, die Bomben auf unsere Krankenhäuser werfen, die sagen, dass wir alle Nazis seien, die kein VPN auf ihren Computern installieren wollen, um die Wahrheit zu erfahren, obwohl sie in den Achtzigerjahren vermeintlich feindliche Stimmen in ihren Radios gehört haben, die Leute, die einmal unsere Freunde waren, sind alle nicht geisteskrank. Nein, sie sind moralisch krank. … Und dann werden Russismus und Faschismus in den medizinischen Büchern stehen, zusammen mit Schizophrenie und blutigem Durchfall, der übrigens die gleiche Farbe hat wie Russismus: Dunkelrot mit einem Hauch von Braun.“ Natürlich kann man über so viel Bitterkeit den Kopf schütteln. Andererseits denke ich, dass man in einem Hochhaus unter Bombardements durch die einstigen Brüder und Genossen einen heiligen Zorn entwickeln darf, und einen bitteren Witz1Es ist nach meinem Empfinden die Tragödie der Russen, dass sie als Staat nie aus dem Zarentum herausgefunden haben. Wir mussten notgedrungen und irgendwann mit einer im Osten stärkeren Überzeugung als im Westen den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung anerkennen und akzeptieren. In Russland feiern sie wegen der Zeitverschiebung den 9. Mai als Tag des Sieges. Es hat da keine Befreiung gegeben. Sicher haben sie die deutschen Nationalsozialisten geschlagen. Aber den Feind im eigenen Land haben sie nie bezwungen. Und in Putin ist so ein Westentaschen-Stalin nun wieder erstanden. Und das hat nur am Rande mit der NATO zu tun. Wenn es die NATO nicht gäbe, müsste er sie erfinden.

Gerassimows Buch ist gar nicht so bitter, wie es aus den von mir ausgewählten Zitaten scheinen mag. Wäre das Thema nicht so traurig (und nur deswegen bin ich auf die Idee gekommen, mal einen ukrainischen Autor zu lesen), könnte man es liebevoll nennen.

Er schreibt zum Beispiel über zwei Frauen, die eine Putinistin, wie sie in der deutschen Übersetzung heißt, die andere das Gegenteil, die sich ausufernd streiten, sich bei der Begrüßung aber auch umarmen und Spaß miteinander in diesem Streit finden.

Das alles ist eine verdammte Tragödie,

die in den letzten mehr als hundert Jahren schon viele traurige Höhepunkte hatte. Und Gerassmimows Buch zeichnet davon anderthalb Monate in seinem kleinen Kosmos nach, in dem er lebt.

Da alle politisch Interessierten darum wetteifern, welches die richtige Haltung zu dieser Tragödie ist, denke ich, dass man schon auch die Ukrainer dazu hören sollte, nicht nur die Geflohenen, auch die Dagebliebenen. Und da ich keinen Bock habe hinzufahren, lese ich halt.

Dieses Tagebuch zeichnet ein Stimmungsbild, es ist keine geeignete Lektüre, um den Kriegsverlauf nachzuzeichnen. Dazu habe ich demnächst Jutta Sommerbauer „Die Ukraine im Krieg – hinter den Frontlinien eines europäischen Konflikts“ auf der Liste. Und „Ukrainische Schicksalsjahre 2013 bis 2019“ von einem Herrn Schneider-Deters. Für gute Empfehlungen bin ich immer dankbar.