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Anne Applebaum schreibt über die Prigoshin-Insurrection.

Last updated at 6.58 p.m. ET on June 24, 2023.

Das ist 0.58 Uhr MESZ am 25. Juni – da hatte Prigoshin auf alle Fälle seinen Marsch auf Moskau schon abgebrochen.

Sie schreibt:

“The hall of mirrors that Vladimir Putin has built around himself and within his country is so complex, and so multilayered, that on the eve of a genuine insurrection in Russia, I doubt very much if the Russian president himself believed it could be real.”1 Der Spiegelsaal, den Wladimir Putin um sich herum und im ganzen Land errichtet hat, ist so komplex und vielschichtig, dass ich am Abend eines tatsächlichen Aufstandes in Russland sehr bezweifle, dass der russische Präsident selbst glaubte, dass es real ist.

Das bringt in mir meine Harry-Potter-Vibes zum Singen: der Spiegel Nerhegeb – gleich eine ganze Halle davon. Putin umgeben von Spiegeln, die ihm nur seine Wünsche zeigen.

Das ist ein Bild, mit dem man sich den Realitätsverlust vorstellen kann, was ja nur bedeutet, dass die Realität, die er sieht, nicht mehr die sein wird, die auf ihn zukommt. Realitätsverlust bedeutet, dass die eigene Realität immer kleiner wird, dass andere um einen herum zunehmend eine andere Realität wahrnehmen, und dass irgendwann ein Windstoß genügt, um den Schleier wegzureißen2 Eine Menge Leute behaupten das auch von unseren Eliten. Da müsste man ins Detail gehen. Aber wenn ich unseren politischen Diskurs verfolge, habe ich das Gefühl, dass eine Konfrontation stattfindet. Und soweit ich in der Lage bin, das zu überblicken, ist unsere Justiz zwar überfordert, aber nicht gekauft..

Applebaum beendet ihren Artikel mit dem Satz:

„… up until the moment he left power, Czar Nicolas II was having tea with his wife, writing banal notes in his diary, and imagining that the ordinary Russian peasants loved him and would always take his side. He was wrong.”3 … bis zum Moment, da er von der Macht lassen musste, trank Zar Nikolaus II. Tee mit seiner Frau, schrieb banale Notizen in sein Tagebuch und war überzeugt, dass die einfachen russischen Bauen ihn liebten und immer auf seiner Seite stehen würden. Er lag falsch.

Diesen Vergleich mit Zar Nikolaus II. bringt sie nur, weil Putin selbst ihn in seiner eigenartigen Rede gezogen hat. Er kam mir in dem Moment schon komisch vor, weil Prigoshin in dieser Analogie ja Lenin wäre, Kerenski fehlte ganz in der Gleichung (oder sollte Prigoshin Kerenski sein und Nawalny Lenin?), und eigentlich stolpere ich schon über den Vergleich zwischen Putin und Nikolaus dem II.

Der größte Unterschied zwischen damals und heute ist doch (neben dem Atombombenarsenal), dass seinerzeit eine Bewegung existierte, die den Menschen mit einiger Überzeugung eine bessere, lichtere Zukunft versprach, und das auch noch mit einer Viele überzeugenden Theorie untermauern konnte4 Ich habe angefangen, die Tagebücher von Iwan Bunin zu lesen. Das mit der besseren und lichteren Zukunft konnten sie wohl auch bloß uns bescheuerten Nachgeborenen erzählen. Ich glaube, es ist einer meiner letzten Glaubenssätze, von denen ich lassen muss, dass es damals etwas Heroisches, Zukunftsweisendes gegeben haben soll. Das haben sie sich für uns im Nachhinein zusammenphantasiert..

Prigoshin erfüllt diese Voraussetzungen nirgends. In der Analogie zu damals ist er allenfalls einer dieser Generäle, die ihr eigenes Süppchen kochen, sich heute diesem und morgen jenem verkaufen, und trotzdem sicher mit innerer Überzeugung behaupten, Mütterchen Russland vor wem auch immer retten zu wollen.

Was ihn mir sympathisch macht, ist seine Geradlinigkeit, sein polterndes „die Wahrheit sagen“. Ein Interview mit ihm ist erfrischend. Aber es ist eben die erfrischende Geradlinigkeit eines Mörders und Räubers5 Applebaum in dem Artikel: „Prigozhin is cynical, brutal, and violent. He and his men are motivated by money and self-interest. They are angry at the corruption of the top brass, the bad equipment provided to them, the incredible number of lives wasted. They aren’t Christian, and they don’t care about Peter the Great.” (Prigoshin ist zynisch, brutal und gewalttätig. Er und seine Männer sind angetrieben von Geldgier und Eigennutz. Sie sind sauer auf die Korruption der Großkopfeten, auf das schlechte Material, das ihnen zur Verfügung gestellt wird, die unglaubliche Zahl sinnlos geopferter Leben. Sie sind nicht christlich, und Peter der Große ist ihnen egal.). Politisch hat er nichts anzubieten, zumindest nichts, von dem ich wüsste.

Man kann sich daher auch seinen Erfolg nicht wünschen.

Iwan Bunin schreibt in seinen Tagebüchern von 1919: „Was ist das für eine russische Krankheit, dieses Leiden, diese Langeweile, dieses Sich-gehen-Lassen – die ewige Hoffnung, dass ein Frosch mit einem Zauberring kommen und alles richten wird.“

Anne Applebaum schreibt einen Tag nach dem o.g. Artikel: „After spending years cultivating public apathy, the Russian president found his people indifferent to his fate.6 Nachdem er jahrelang die öffentliche Apathie kultiviert hat, sieht der russische Präsident nun, dass den Leuten sein Schicksal gleichgültig ist.

Okay, mir persönlich ist jetzt Olaf Scholz‘ Schicksal auch nicht so superwichtig. Der Unterschied ist halt, dass ich im Moment jedenfalls keine Angst haben muss, dass das ganze System wie ein Kartenhaus zusammenfällt, bloß weil Olaf Scholz nicht mehr da ist.