Papageno

Oh, wär ich eine Maus!

Wie wollt ich mich verstecken –

Wär ich so klein wie Schnecken,

so kröch ich in mein Haus!

Mein Kind, was werden wir nun sprechen?

Pamina

Die Waaahrheit – die Waaahrheit!

Sei sie auch Verbrechen1Libretto “Die Zauberflöte” von Emanuel Schikaneder!

In meinen Blasen

kommt öfter vor, dass sich jemand darauf beruft,

  • dass die Wahrheit nicht mehr gesagt wird, oder
  • dass man sie nicht mehr sagen darf,

insbesondere im Moment in Bezug auf den Ukraine-Krieg, vorher handelte es sich um Corona und natürlich bezüglich des Klimawandels.

Wahlweise wird sie unterdrückt, oder wir werden gar belogen, in erster Linie von den Mainstream-Medien. Mainstream ist was ganz Schlimmes geworden.

Ich stelle hier mal eine These in den Raum:

Der Mensch hält im Allgemeinen für wahr, was ihm am besten in den Kram passt. Und

  • wenn er schlechte Laune hat, oder
  • mit dem Leben nicht klar kommt, oder
  • Angst hat, dass ihm der soziale Abstieg droht oder eine Atombombe auf den Kopf fällt2für den einzelnen Menschen würde es auch eine gewöhnliche Landmine tun oder eine Revolverkugel oder wenn ihm das zu wenig ist, eine Drohne aus türkischer oder iranischer Produktion mit Chips natürlich aus den USA/China oder vor dem nächsten Virus oder auch der Impfung dagegen,

und irgendwer (der Mainstream) versucht ihm zu erklären, dass er sich keine Sorgen machen muss, oder dass er sich impfen lassen soll oder was auch immer, dann wittert er Verrat, Betrug, Lüge, vielleicht sogar eine Verschwörung, denn er will sich um nichts in der Welt aus seinem scheiß Gefühl rausquatschen lassen, dass jemand Schuld tragen muss an seinem Unglück3“Die Tragik unserer Epoche besteht darin, dass die Menschen ihre persönliche Unzufriedenheit mit einem politischen Problem verwechseln.“ Aus Juli Zeh „Über Menschen“.

Darin badet er (oder sie) nämlich. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin auch im Besitz der Wahrheit. Ich merke das immer daran, dass sie sich in meinem Kopf zu unumstößlichen Beweisketten formiert und mit mir spazieren geht.

Ich hatte in den Zweitausendern, besonders in meiner Midlife-Crisis, eine Zeit lang dieses dem-Gefühl-vertrauen-Ding zu laufen. Das ist eigentlich das Beste, denn wenn ich mich darauf zurückziehen würde, was ich wirklich WEIß, dann wird es eng.

Nicht mal das mit dem Pfund Rindfleisch und der daraus entstehenden guten Suppe kann man heute unwidersprochen in den Raum werfen.

Ein Bekannter von mir zum Beispiel hebt gerne darauf ab, dass die Ukrainer den Russen in den Gebieten Luhansk und Donezk teilweise übel mitgespielt hätten, dass es eine Menge Tote gab, dass ihnen die russische Sprache untersagt werden sollte und solche Sachen. Wenn dem tatsächlich so war, sollten sie nach dem Auge-um-Auge-und-Zahn-um-Zahn-Prinzip nun eigentlich quitt sein.

Andererseits hätten die Ukrainer, würde man die letzten hundert Jahre einbeziehen, hier und da noch eine Rechnung offen.

Andererseits sollten wir Deutschen dieses Thema mit offenen Rechnungen gar nicht erst anfangen, fordern doch die Polen über eine Billionen Euro an Reparationen, obwohl sie schon riesige Ländereien bekommen haben, dafür aber im Osten auch welche abgeben mussten, aber was geht uns das an.

Andererseits haben, das ist doch der Punkt, die Amerikaner und der Nordatlantikpakt die Russen zu diesem Krieg GEZWUNGEN, sie also so lange gepiesackt, bis es den Russen reichte!4Benjamin Abelow „How the west brought war to Ukraine”Was würden denn die Amerikaner machen, wenn sie von russischen Truppen eingekreist würden, wenn die Russen Militärmanöver in Mexiko abhielten? Würden sie sich doch auch nicht gefallen lassen! Gedenket der Kubakrise!!!

Andererseits: welchen Grund sollten die Mexikaner haben, Russen bei sich Militärmanöver abhalten zu lassen. Im Gegenzug kann man sich das bei den Balten schon mit dieser oder jener geschichtlichen Begebenheit erklären, dass sie dringend in die NATO wollten, und auch bei den Ukrainern würde einem mancher Grund einfallen.5Mag sein, dass der Vergleich hinkt, weil ich zu wenig darüber weiß, welchen Bündnissen die Mexikaner beitreten würden, könnten sie den USA nur mal ordentlich einen reinwürgen.

Wahrheit hat dann immer auch etwas mit diesem Sag-mir-wo-du-stehst-Ding zu tun.

Heute steht man auf dem Boden des Grundgesetzes, ist vielleicht Verfassungspatriot, andere sondern Sätze ab wie: Wer hätte gedacht, dass man sich nach den Verbrechern von früher mal zurücksehnen würde.

Sicher wird es am Ende wieder darum gehen, wer das dicke Geschäft macht, z.B. beim Wiederaufbau des zerstörten Landes.

Wahrheit!???

Meine geht so: Wenn bei Beginn der „Spezialoperation“ ein Großteil der Ukrainer die Russen voller Freude begrüßt hätte,

  • weil sie ihre Brüder (und Schwestern) sind,
  • weil es Millionen Verwandtschaftsverhältnisse gibt,
  • weil sie sich zu Russland gehörig und sich vom Westen vereinnahmt fühlen,

dann hätte ich gesagt: in Gottes Namen. So wie ich das bei der Krim gesagt habe. Ich gestehe es. Aber so sieht es nicht aus. Und solange Putin und sein System immer noch oder schon wieder zu den alten Stalinschen Methoden der Verschleppung halber Völkerschaften, des Mordes, der Bevormundung der Gerichtsbarkeit,69.12.22 NZZ: Moskauer Gericht verurteilt den Oppositionellen Ilja Jaschin zu 8,5 Jahren Strafkolonie,… weil er gegen den Angriffskrieg in der Ukraine protestierte. 8.7.22: Sieben Jahre Straflager wegen Diskreditierung der Armee für Alexei Gorinow. der Folter und Vergewaltigung, des Terrors gegen die Zivilbevölkerung greift, entsteht in mir nicht der Wunsch, dieser Macht nachzugeben.

Ich bin eine Leseratte,

ein Freund des Lernens durch Lesen. Ist tricky, ich weiß, weil ich halt auch den „Wissenschaftlichen Kommunismus“ gelesen habe und „Der Friede im Osten“ und „Timur und sein Trupp“.

Aber ich habe auch Swetlana Alexijewitsch gelesen, Anne Applebaum, Wassili Grossmann, Lew Kopelew, Alexander Solschenizyn, Boris Pasternak, neuerdings Michail Schischkin, Orlando Figes, Anna Politkowskaja und sicher noch eine Menge mehr, die mir gerade nicht einfallen.

Sie sind im inneren oder äußeren Exil gelandet, erschossen worden, haben im Lager gesessen, oder waren von Anfang an halt Amerikaner wie Frau Applebaum, Briten wie Herr Figes oder auch Catherine Belton, deren Buch „Putins Netz“ nur zu empfehlen ist.

Ja, es ist wahr, es gibt einen Edward Snowden, der nicht mehr nach Amerika zurückkann und ironischerweise in Russland Asyl gefunden hat. Aber die USA sind ein extra Thema.

Das Schlimme ist, dass „man“ halt keine Alternative für „danach“ sieht in Russland. Sowas kann ja nicht nur an Nawalny oder Chodorkowski hängen.

Wir in Deutschland hatten das Glück, dass uns die Besatzungsmächte zu einem Wandel gezwungen haben, zu einer mehr oder weniger wahren Demut gegenüber dem Armageddon, das wir der Welt aufgezwungen haben.

Wird in Russland nicht passieren. Dort hatten sie die „Goldene Horde“, anschließend Iwan Grosny, dann ihren eigenen Dreißigjährigen Krieg, dann die Romanows, dann die Bolschewiki und die Sowjetunion7.Faszinierend, wie man knapp tausend Jahre in drei Zeilen quetschen kann., dann die furchtbaren Neunziger, wo alles den Bach runterzugehen schien und dann Putin, direkter Nachfahre von Dschingis Khan, Iwan dem Schrecklichen und Stalin.8Bisschen Vereinfachung wird wohl erlaubt sein, geht schließlich darum, den Punkt zu machen. Vgl. Orlando Figes „Eine Geschichte Russlands“.

Worum ging es nochmal?

Wahrheit!

Wahrheit ist ein Konstrukt, das man sich in seinem Kopf zusammenzaubert.

Die Ukraine ist, gemessen an der Einwohnerzahl, wahrscheinlich das Land, das im letzten Jahrhundert den größten Blutzoll an die wahnsinnigen Weltverbesserer im Osten und im Westen entrichtet hat9Timothy Snyder „Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin“.

Ich will, dass sie gewinnen, wenn sie das wollen. 10Andrej Kurkov „Tagebuch einer Invasion“ – ca. 500.000 Männer im wehrfähigen Alter sind aus der Ukraine geflohen – für eine Demokratie, schreibt er, eine wahrscheinlich angemessene Zahl.

Ist das richtig? Ist das wahr? Für mich schon.

Heute kam aus einer meiner Ecken, dass die Ukraine eine Marionette der USA wäre. Marionette bedeutet eigene Willenlosigkeit. Wie kommt man zu so einem Vorurteil? Bei Kadyrow in Bezug auf Putin würde mir so eine Vokabel einfallen, aber schon bei diesem Hund-zu-Herrchen-Verhältnis ist es schwierig.

Marionette ist ein sinnloses Totschlag-“Argument“. Als ob die Benutzung dieses Wortes etwas beweisen würde.

Gibt eine Menge Wahrheiten, die man gar nicht alle kennen kann. Und wahrscheinlich ist es nicht gut, sich mit zu vielen zu beschäftigen. Es hindert einen sich zu entscheiden, wo man steht.

Andererseits ist das auch scheißegal, wo „man“ steht.

Und ich bin heilfroh, dass ich den Scheiß nicht entscheiden muss. Ich bin dankbar, dass wir gewählte Menschen haben, die sich dafür mit Hass und Hohn bewerfen lassen (müssen) und ich bin froh, dass wir sie wieder abwählen können. Ich finde das verbreitete Geschrei, dass sie alle Verbrecher und Lügner sind, widerlich. Man soll ihnen widersprechen, wenn man einen Grund dazu hat, ein Stück Wahrheit, das man benennen kann und das zu wenig Beachtung findet. Aber man soll sich Höflichkeit und Respekt bewahren. Das ist eine Frage der (Leit)Kultur11Andererseits mag ich einen Heiligen Zorn auch. Aber er muss dann schon heilig sein. Nicht so ein Gekotze.

Solange man sich nur über das unterhält, was einen unmittelbar umgibt, wie die Lufttemperatur, das Essen, den Kaffee, die Prostata, gibt es keine Schwierigkeiten. Die oben schon zitierte Juli Zeh hat in „Über Menschen“ den schönen Satz geschrieben: „Vielleicht ist das Einnehmen einer Haltung nur wichtig, solange man die Dinge aus sicherer Distanz betrachtet.“