Nun habe ich zwei Tage vor Ultimo (29.12.2023) noch ein Buch angefangen, in dem eine Firma Selbstmordkandidaten heilt und die Unheilbaren für Terroranschläge verkauft. Auf welchen Autor würde ich da kommen? Nicht auf Juli Zeh jedenfalls, aber deren Buch „Leere Herzen“ von 2017 ist es, das ich aus meiner Geschenkelostrommel gefischt habe. Es ist eindeutig von meiner Schwester, weil es vom Lesen in der Badewanne aufgequollen und fleckig geworden ist.
In Deutschland regiert bald die Bewegung der besorgten Bürger, es gibt ein Effizienzprogramm, dem alle möglichen Dinge zum Opfer fallen, z.B. soll die 5%-Hürde auf eine 15%-Hürde angehoben werden, es gibt eine Sport-ist-öffentlich-Bewegung, es gibt das Grundeinkommen und die Innenministerin heißt Wagenknecht. Ist das eine Dystopie? Glaube schon. Aber sie ist noch nah an der jetzigen Realität. Nicht so wie bei den Amerikanern, bei denen Dystopien immer gleich in Landschaften stattfinden, die Berlin im Mai 1945 gleichen. Und es geht wieder um ein Thema, um das es in gefühlt allen Juli-Zeh-Büchern geht: um den Kauf eines alten Hauses mit Seele auf dem Land.
Aus diesem Buch habe ich die Überschrift, Motto des Jahres:
Glück ist, wenn man sich immer wieder klarmacht, was einen alles nichts angeht.1
Auf dem kleinen Klo lese ich von Uwe Wittstock „Februar 1933“, eine Phase, in der viele Menschen ins Exil gehen mussten, manche feige waren, manche mutig, und in der es vielen an den Kragen ging. Die kleinen Begebenheiten vom großen Presseball am 30. Januar 1933 über das Hinausdrängen Heinrich Manns aus der Akademie der Künste bis hin zur Flucht Brechts erst in ein Privatsanatorium, dann nach Österreich zeichnen ein bitteres Bild der kulturellen Verödung Deutschlands, an der wir bis heute leiden.
Im Bad lese ich bei meinen Sitzungen derzeit ein aus dem Bestand gelostes Buch von Ingo Zimmermann „Hoffmann in Dresden“, in dem es um die Zeit um 1813 geht, als E.T.A. Hoffmann in Dresden als Kapellmeister fungierte. Ist interessant, wie er sich inmitten von Schlachten darum bemüht, Carl Maria von Webers Oper Silvana zum Laufen zu bringen. Krieg war damals eher etwas Lokales. Man ging nach der Schlacht raus vor die Tore der Stadt, zerstückelte Leiber gucken, eine Art von Sensationstourismus schon damals.
Im Bett lese ich auf dem Kindle „Krieg und Sühne“ von Mikhail Zygar, „Der lange Kampf der Ukraine gegen die russische Unterdrückung“ – gerade bin ich im 19. Jahrhundert und er erzählt die Geschichte von Taras Schewtschenko, einem ukrainischen Nationaldichter. Passend dazu wurde mir heute ein Vortrag von Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz, noch immer mit dem typischen Haarschnitt, allerdings jetzt in grau, zur Frage, wie Frieden in der Ukraine erreicht werden könnte, nahegebracht, den ich mir mit großem Interesse angehört habe.
Man kann nicht wissen, worauf das alles hinausläuft.
Man hat es Februar 1933 nicht gewusst, wo viele davon ausgingen, dass der Spuk bald vorbei sein würde, man wusste es 1813 nicht und auch Juli Zehs Buch, das 2025 spielt, wird so nicht Wirklichkeit werden.
Die Zukunft ist ne abgeschossene Kugel, sang Gerhard Gundermann, auf der mein Name steht und die mich treffen muss. Und meine Sache ist, wie ich sie fange, mit’m Kopf, mit’m Arsch, mit der Hand oder mit der Wange, trifft sie mich wie ein Torpedo oder trifft sie wie ein Kuss.
Das ist ein schön-trauriges, melancholisch vorgetragenes, wenn auch nicht sehr stimmiges Bild, weil mich die Zukunft ja andauernd trifft und im selben Moment zu Gegenwart und Vergangenheit wird. Im Grunde kann das Bild von der abgeschossenen Kugel nur die Extremereignisse meinen, die ein Leben treffen, wie ein Herzinfarkt, ein Autounfall, eine Bombenexplosion oder ein Tumor. Oder auch eine Liebe. Um nicht nur nach den Katastrophen zu schielen.
Wozu also diese vielen Bücher lesen?
Was haben sie mit meiner Zukunft zu tun? Wozu muss ich die Vergangenheit begreifen um zu leben? Gestern hat einer gesagt, er studiere jetzt die Geschichte um zu begreifen, warum die Menschen so bekloppt sind. Ja, da meint er sich selbst doch sicher nicht mit? Oder mich und die, die sonst am Tisch saßen. Welche Menschen sind denn die bekloppten? Donald Trump ist bekloppt, aber da er der nächste Präsident der USA wird, wie ich heute Morgen las, wird er wohl auch eine gewisse Form von Schlauheit hinter seinem bekloppt Sein verbergen. Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass es vielleicht solch eines Menschen bedarf, um dem Wahnsinn der Globalisierung etwas entgegenzusetzen.
Ich lese Bücher, erfasse die Buchstaben, forme sie zu Bildern und Vorstellungen in meinem Kopf, die ich hier und da wieder ausspucke als etwas halb Verdautes. Und immer kommt Neues hinzu. Heute zum Beispiel hat Prof. Dr. Krone-Schmalz mir ein Buch von einem Nikolai Petro empfohlen: „The Tragedy of Ukraine“. Sie kam darauf, weil eben jener Nikolai Petro im Zusammenhang mit der Loslösung der Ukraine von Russland von Selbstmordökonomie sprach.
Kann Glück darin liegen zu begreifen, dass mich die Ukraine nichts angeht?
Oder der Krieg im Gaza-Streifen. Für den Jemen fällt mir das doch auch nicht schwer. Das geht mir völlig am Allerwertesten vorbei2. Kann Seelenhygiene darin bestehen etwas nicht zu beachten, wenn ich ohnehin nicht vorhabe etwas in der Sache zu unternehmen und /oder auch keine Ahnung habe, was das sein sollte, das ich unternehmen könnte.
Beliebige Zeitung3 Spitzenmeldung gerade jetzt: Putin rüstet auf, Deutschland ist nicht gewappnet, wir brauchen Jahre um uns wieder verteidigungsfähig zu machen, das ist nicht bloß Säbelrasseln, Putin will den Machtbereich der einstigen Sowjetunion zurück.
Ich könnte mich empören, entweder was Putin für ein furchtbares Stalinistisches Reich neu errichtet.4 Ich könnte mich über die tendenziöse Berichterstattung unserer Systempresse empören. Beide Varianten stehen mir offen, beide sind mit Überzeugung zu vertreten. Da brauche ich bloß einen Schalter in mir umlegen, dann fließt der Strom durch andere Synapsen.
Ich will das dieses Jahr mal probieren,
wie weit ich damit komme, mir in Stresssituationen bewusst zu machen, was mich alles nichts angeht. Juli Zeh legt diese Ansicht einer ihrer Figuren in den Mund, ich glaube, es war Juliana, die Frau, die in diesem Buch das alte, halb verfallene Haus kauft. Ich glaube nicht, dass Juli Zeh diese Auffassung selbst vertritt, sie macht oft einen eher engagierten Eindruck. Was immer ihr Engagement am Ende auch bewirken mag. Mir fällt dazu noch ein anderer Gundermann-Song ein:
Ich mache meinen Frieden mit all den Idioten
Die die Welt behüten woll’n, mit ihren linken Pfoten
Mit jedem Samurai, mit jedem Kamikaze
Mit jedem grünen Landei und auch mit jeder Glatze
Die die Welt nicht bessern können, aber möchten
Mit viel zu kurzen Messern in viel zu langen Nächten
Das mit den viel zu kurzen Messern in viel zu langen Nächten hat mir damals sehr gefallen, fand ich treffend und witzig. Aber es ist nicht gesagt, dass die Messer zu kurz bleiben. Aber worauf ich eben hinauswollte, waren die Idioten, die Welt behüten woll’n mit ihren linken Pfoten … Muss ich bei denen dazugehören? Es gab eine Zeit in meinem Leben, da habe ich das geglaubt. Obwohl, stimmt das? Ich bewundere engagierte Menschen, die an einer Energiewende arbeiten. Sagt mir Bescheid, wenn ihr so weit seid. Bis dahin lese ich noch etwas und gucke „The Crown“. Coole Serie. Beim Serie gucken und beim Lesen kann ich doch am allerwenigsten einen Schaden anrichten.
- Da ich das Buch als Papierausgabe lese, kann ich nicht suchen lassen und markiert habe ich, da ich es in der Badewanne lese, nichts. Das Zitat ist also aus dem Gedächtnis rekonstruiert. ↩︎
- Ich möchte immer all die Pro-PalästinenserInnen fragen, warum ich zum Jemen-Konflikt von ihnen nichts höre, warum die ganze Welt seit sechzig Jahren dafür sorgt, dass die Palästinenser den Israelis als Problem erhalten bleiben. ↩︎
- Die Welt 1.1.2023 ↩︎
- Heute war auch ein Artikel im Spiegel, in dem Mikhail Zygar (sh. derzeit gelesene Bücher oben) von einer Begebenheit schreibt, wie Prominente, die in Moskau eine Fast-Nackt-Party veranstaltet haben, zu Kreuze kriechen müssen. Zygar zog Vergleiche zu den Zeiten der Kulturrevolution im „alten“ China. ↩︎
Schön geschrieben… und interessantes Motto