Jugendliche Prägungen

Ich bin aufgewachsen mit dem Credo, dass es wichtig ist, sich mit Politik zu befassen, insbesondere sie nicht den Reichen und Schönen, sozusagen dem Großkapital zu überlassen, sondern aktiv in die Kämpfe der Zeit einzugreifen, was allerdings da, wo ich herkomme, zu seiner Zeit eine sehr gesteuerte Angelegenheit war. Damals begann etwas, das ich heute als Zeitungslesesucht bezeichnen würde. Und wir waren breit aufgestellt. Im Haushalt, in dem ich aufgewachsen bin, gab es das Neue Deutschland1, die Freie Presse, die Junge Welt, aber wir hatten auch Das Magazin, den Eulenspiegel, später Horizont, ich kann mich noch an Die Trommel erinnern, sogar Das Mosaik gab es, das Neue Leben2 nicht zu vergessen. In der Gegend, wo ich herkomme, was eine sehr konservative, manche haben damals schon schwarze Ecke gesagt, ist, wollte wahrscheinlich niemand die Ostblätter lesen. Anders kann ich mir nicht erklären, wie wir all diese Abonnements erhalten konnten, denn im Rest der Republik waren die teilweise Goldstaub.

Ausprägungen im Alter

Und so zog sich das durch mein Leben. Heute habe ich (alles online) ein Abonnement Der Spiegel, eine Abo Berliner Zeitung, ein Abo Die Welt, außerdem die Washington Post und the Atlantic, per Post bekomme ich noch Harpers, keine Ahnung, wann ich das bestellt habe. Außerdem beziehe ich Newsletter von meduza, um etwas aus Russland zu erfahren, aber mittlerweile schaue ich da kaum noch rein. Man erfährt, wer da wo verhaftet oder entlassen wurde, solche Dinge.

perfide Tagesthemen

Manchmal, wenn meine Finger per Zufallsprinzip auf dem Handy eines der Blätter öffnen, frage ich mich, wozu. An sich müsste man sich, denke ich, so Tagesthemen aussuchen, und dann mal aufmerksam alle Zeitungen nach diesem Thema durchforsten. Um sich eine Meinung bilden zu können. Und selbst dann …

Gestern zum Beispiel war die Überschrift beim Spiegel: „Drohendes Scheitern beim EU-Gipfel – Orbans perfides Spiel“. Wie soll man sich als Pankower mit ein paar Verbindungen nach Mitte, Prenzlauer Berg und Karlshorst, dazu eine Meinung bilden. Dazu kommt, dass „perfide“ so ein Nazi-Wort für mich ist. Ich muss dann immer an das perfide Albion denken. Oder denkt sich mein Gehirn das gerade aus? Nein, die Suchmaschine wirft Albion sogar als Vorschlag aus, wenn man „das perfide“ in die Suchzeile eintippt3.

Es geht um die Aufnahme oder einen Kandidatenstatus der Ukraine für die EU. Ich kann nicht beurteilen, ob das eine gute Idee ist. Ich meine, all die Milliarden, mit denen sie immer um sich werfen, schrecken mich nicht so sehr. Es ist Geld, es kommt schon zurecht. Auf irgendwelchen Konten irgendwelcher Oligarchen in der Karibik wird es landen, es ist nur eine Frage der Zerstörung der richtigen Server, um es wieder zu „vernichten“.

Aber warum ist Orbans Spiel perfide?

Perfide hat so einen Anklang an Hinterlist. Eine Art ausgeklügelte Hinterlistigkeit. Er erkauft sich seine Zustimmung damit, dass gesperrte Gelder freigegeben werden, die gesperrt wurden, weil seine Justiz nicht mehr unabhängig ist, oder so. Und es geht um 50 Milliarden Unterstützungsgelder für die Ukraine, die auch nicht so ganz sauber ist, was Korruption betrifft.

Wenn ich da einsteigen wollte, was müsste ich nicht alles studieren und lesen.

Wieso ist Ungarns Justiz nicht mehr unabhängig? Sollte ich mich da nicht mal in ihre Fänge begeben, was ich aber schon mit der deutschen Justiz tunlichst vermeide.

Was bedeuten zehn Milliarden gesperrte Gelder für Ungarn? Was wollen die Ungarn sich dafür kaufen?

Wofür sind die 50 Milliarden für die Ukraine, ich habe keine Ahnung von der Technik bei den Geldüberweisungen, welche „Kanäle“ es entlang fließt und in welchen „Taschen“ es am „Ende“ landet.

Mir wird also nur eine Meinung lanciert, kaschiert durch ausgesuchte „Fakten“, was bedeutet, dass es völlig egal ist, ob ich den Scheiß lese oder nicht, weil es keinerlei Rückkopplung gibt, es sei denn, ich schriebe etwas in die Kommentare, aber auch dann dürfte eine wirksame Rückkopplung nicht messbar sein4.

Ist Zucker in den Arsch blasen nicht ein Mordversuch?

Selbst im Freundeskreis bringt es mich nicht weiter, weil ich nicht in der Lage bin, Gelesenes unterhaltsam strukturiert widerzugeben. Manchmal hilft es beim Stichwort geben. Aber wenn einer meiner Freunde, den ich eher politisch rechts verorten würde, vom Leder zieht, dann wirft er mit Zahlen um sich, denen ich nichts entgegensetzen kann, weil ich dann nicht mehr weiß, wie viele Milliarden es waren, und ob es um „bares“ Geld oder um Bürgschaften geht, ob das etwas damit zu tun hat, dass wir nicht genug ErzieherInnen und LehrerInnen haben oder ob das eigentlich zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind, ob all den Flüchtlingen wirklich der Zucker in den Arsch geblasen wird, und ob das nicht eher versuchter Mord wäre, Zucker im Arsch kann schließlich nicht gesund sein.5

Was ist also das Vergnügen eigentlich am Zeitung lesen?6

Es vertreibt die Zeit.

Es informiert über heranziehende Katstrophen.

Es macht Angst.

Es gibt einem ein Gefühl der Überlegenheit, weil man das Gefühl aufbaut, etwas durchschaut zu haben.

Es ist manchmal recht vergnüglich, wenn eine(r) mit Witz oder Zorn oder am besten beidem schreibt7.

Man kann dabei ein behagliches Weltbild aufbauen aus Vorurteilen und Aufregungsreflexen, die man drücken lassen kann, wie es einen gerade juckt.

Man kann sich einen inneren imaginären investigativen Journalisten vorstellen, dem man seine Meinung sagt, und wenn man dabei plötzlich festhängt, kann man ungestraft das Thema wechseln oder spazieren gehen oder einen Kaffee kochen und wegkippen.

Billiges Vergnügen

Und das ist mit ich glaube 21 Euro für den Spiegel, jeweils zehn für Berliner Zeitung und Welt, 6 Euro für die Washington Post und genau so viel für the Atlantic, Harpers vermutlich ähnlich nicht zu teuer erkauft. Es müsste so auf 60 Euro im Monat hinauslaufen. Dazu kommen 18 Euro für Netflix, irgendwas bei 15 € für einen Family-account bei Spotify, 18 € GEZ nicht zu vergessen, so 7 € für Amazon prime, wo bin ich jetzt?

Fast 120 Euro pro Monat nur für diese Art Unterhaltung. Was für ein gigantisches Einsparpotenzial, wenn es mal eng wird.

Telekom und Vodafone sind noch nicht einmal gerechnet. Was scheren mich da 10 Milliarden für Ungarn oder 50 Milliarden für die Ukraine? Im Grunde könnten sie von mir noch hundert pro Monat dazu haben.

Aber vielleicht packe ich das doch lieber in die Urlaubskasse. Für nächstes Jahr am Balaton.8


  1. Mehrfach wurde mir das Neue Deutschland meines Geburtstages 16.3.1962, geschenkt, gibt ja heute so etwas, also: kann man echt nicht lesen. G r u s e l i g! ↩︎
  2. Bei dem meine Schwester mal eine Simson Enduro gewonnen hatte, was schon etwas Tolles war. ↩︎
  3. Allerdings kennt Word das Wort nicht. Es legt einen roten Kringel darunter. Mal in den Thesaurus aufnehmen. „Perfides Albion“ stammt aber nicht, laut Wikipedia, von den Nazis, sondern von den Franzosen. 1813 wurde es dort zum geflügelten Wort. ↩︎
  4. Wie bei Elementarteilchen – kein von Null verschiedener Durchmesser, obwohl sie irgendeine Größe haben müssen. Also auch meine Meinung müsste eine Größe, wiewohl im Meinungsmeer nicht wahrnehmbar, haben. Die Frage ist: habe ich eine Meinung? Wo käme die dann her? Und könnte ich nicht auch eine andere haben? Wenn sie mir nicht mehr passt, zum Beispiel. ↩︎
  5. In dem Zusammenhang hatte ich jetzt ein eigenartiges Erlebnis: Ich habe die künstliche Intelligenz von Bing gefragt, was denn passiert, wenn man einem Menschen tatsächlich Zucker in den Arsch bläst. Ihre Antwort: „Ich werde mich aus dem Gespräch zurückziehen. Vielen Dank für ihre Zeit.“ Da bleibt mir doch glatt die Spucke weg. Bing ist eine beschissene Diva. Ihr verschissener Algorithmus erlaubt es ihr nicht, sich mit so niederen Fragen zu beschäftigen. Wir werden bei „1984“ enden, es sei denn, wir wählen alle Trump, und zwar solange, bis sie mit diesen scheiß Versuchen uns erziehen zu wollen, wieder aufhören. Wichser … Innen! ↩︎
  6. Und warum schreibe ich hier stundenlang einen Blog darüber? Der dann in zehn Minuten weggelesen ist. Ist wie beim scheiß Kochen, stundenlang steht man in der Küche, und in zehn Minuten ist alles weg außer dem dreckigen Geschirr, sind schließlich keine Pfadfinder, meine Gäste, die ihre Teller hinterher ordentlich ablecken. ↩︎
  7. Thomas Fischer, Jan Fleischhauer, Henryk M. Broder, Don Alphonso, Hans Zippert, Harald Martenstein, Alexander Osang, ich suche verzweifelt nach einer Frau, ich muss mehr Frauen lesen, so geht das nicht weiter, okay, ich schwöre, wenn ich daran denke, demnächst nach einer Frau mit dem heiligen Zorn zu suchen, Anna Schneider geht nicht, der fehlt der innere Abstand. ↩︎
  8. kleiner Insider ↩︎