Das beste Sachbuch, das ich 2022 gelesen habe:
„Putins Netz“ von Catherine Belton. Der Wert des Buches liegt in den vielen Gesprächen, die sie geführt hat. Sie folgte der Spur des Geldes, war jahrelang Korrespondentin der „Financial Times“ in Moskau. Der Eindruck, der bleibt: Unter Putin ist Russland zu einem mafiösen Staatsgebilde geworden, in dem man reich werden (und bleiben) kann, wenn man loyal zum Herrscher steht. Sonst wird es schnell gefährlich, oft genug sogar tödlich. Das Buch verfestigt in mir den Eindruck, dass Putin mit den Methoden der Sowjetzeit seinen Laden zusammenhält, nur absolut ohne den Idealismus, den die Idee einer besseren Gesellschaft noch zu wecken vermochte.
Platz 2: „Unsere Welt neu denken“ von Maja Göpel, so ein Buch, wo man bei jeder Zeile ausrufen möchte: Genau! Aber ob es an meinem Leben was ändert? Mal sehen. Es liest sich gut und flüssig.
Platz 3: „Die fremde Braut“ von Necla Kelek, eine verstörende Beschreibung der Paralleluniversen, die es um einen herum so gibt. Zwangsehen in Deutschland.
Der beste Roman, den ich 2022 gelesen habe:
„Wassermusik“ von T.C. Boyle. Das Buch habe ich geschenkt bekommen, als ich darum bat, mir zum 60. Geburtstag ein Kunstwerk zu schenken, das den Schenker einst schwer beeindruckt hat. Das Buch handelt von einer historischen Figur, einem Engländer, Mungo Park, der Anfang des 19. Jahrhunderts den Verlauf des Niger erforschen will, und dabei schlussendlich zu Tode kommt. Es ist drastisch, witzig, absurd in seinen Handlungssträngen, reich an Details, ein Feuerwerk an erzählerischem Witz. Das Buch ist schon vierzig Jahre alt, aber da es ein historischer Roman ist, spielt das keine Rolle.
Platz 2: „Chances are“ von Richard Russo (deutsch „Jenseits der Erwartungen“), eine Geschichte über drei alt gewordene Männer, die herausbekommen wollen, was aus ihrer verschwunden, gemeinsamen großen Liebe geworden ist – Mischung aus Krimi und Sozialstudie.
Platz 3: „Sehr blaue Augen“ von Toni Morrison – sie ist eine Entdeckung für mich gewesen. Bin gespannt, evtl. mehr von ihr zu lesen („Menschenkind“ habe ich schon gelesen). Geht um das Leben der Nachfahren von Sklaven in den USA. Im Gegensatz zu Platz 4 schön geschriebene Literatur über ein bedrückendes und verstörendes Thema.
Platz 4: Dreibändige Jahrhunderttrilogie „Sturz der Titanen“, „Winter der Welt“ und „Kinder der Freiheit“ von Ken Follett – spannend erzählte Geschichte des 20. Jahrhunderts aus Sicht der Welten östlich und westlich des Eisernen Vorhangs. Keine große Literatur, aber unterhaltsamer Geschichtsunterricht im Stile von „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, bloß mit deutlich mehr Protagonisten: Frühstücken mit Chruschtschow, Schlafen mit Kennedy, Verhandeln mit Genscher, immer gut dosierte erotische Zwischenfälle, passt schon.
Das beste (auto)biographische Werk, das ich 2022 gelesen/gehört habe:
Das ist nicht so einfach, da gibt es mehrere, die mich beeindruckt haben:
- „Denken ist heute überhaupt nicht mehr in Mode“ von Anna Haag – Tagebücher 1940 bis 1945. Wieso sind die Deutschen so lange ihrem Führer hinterhergelaufen? Alltagsbeobachtungen. Man hat alles gesehen, alles gewusst, aber war halt mit sich selbst beschäftigt.
- „Zwischenbilanz“ und „Vierzig Jahre“ von Günter de Bruyn – wie sich ein Mann durch zwei Diktaturen wurstelt und es immerhin schafft, als Halbwiderständler in der DDR zu einigem Erfolg als Schriftsteller zu kommen, den er im Westen m.E. nicht gehabt hätte.
- „Barracoon: the story of the last slave” von Zora Neale Hurston, eine Art Interview mit dem vermutlich letzten lebenden, noch selbst verschleppten Sklaven, die Geschichte, wie er in Afrika von einem anderen Stamm versklavt, verschleppt und verkauft wurde, wie er alle seine Kinder und seine Frau überlebte, als dann schon „freier“ ehemaliger Sklave.
- „Die Hände meines Vaters“ von Irina Scherbakowa, eine sowjetische Familiengeschichte mit allem Drum und Dran – eher ein Sachbuch als ein Roman.
- „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“ von Kurt Krömer als Hörbuch – eine gefühlt ehrliche und rückhaltlose Abrechnung mit sich selbst und dem eigenen Leben, mit Alkoholismus und Depression.
- „Second hand Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ von Swetlana Alexijewitsch – als Hörbuch – hatte es früher schon mal gelesen. Einfach atemberaubend.
- „Hillbilly elegy“ von J.D. Vance, der mittlerweile Senator von Ohio geworden ist, weil er angeblich Trump in den Arsch gekrochen ist. Es ging viel um seine Oma, wenn ich mich recht entsinne, und um Bildungschancen – und das, was jeder von sich selbst verlangen sollte, wenn er aus prekären Verhältnissen herauswill. Ihm selbst hat die Army sehr geholfen, Disziplin von sich zu verlangen. Insofern ist das Trump in den Arsch kriechen („J.D. is kissing my ass he wants my support so bad.“) nur konsequent.
- „Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach, der liest sich weg. Der große Zauber seiner zwei ersten Erzählbände („Verbrechen“ und „Strafe“) will sich nicht mehr so recht einstellen. Wahrscheinlich verlangt man mittlerweile einfach zu viel.
Außerdem habe ich noch mit viel Freude „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ von Heinrich Heine gelesen, einfach eine Freude.
Das ist so das, was mich letztes Jahr beeindruckt hat. Das Schlimme ist, das ich mich jetzt schon an Vieles nicht mehr erinnern kann, was die Frage aufwirft, wozu man überhaupt so viel liest, wenn ja doch nichts hängenbleibt oder zumindest nicht viel.
Man muss mit dem Vergnügen des Augenblicks zufrieden sein. Lesen ist halt so eine Beschäftigung. Andere kümmern sich um ihre Balkonpflanzen. Und ein Buch ist eine Pflanze, die nur blüht, wenn das Auge eines geneigten Lesers sie streichelt. Alle, die ich oben aufgezählt habe, sind dazu angetan, die schönsten Blüten (im Kopf) zu produzieren. Lesenswert.