Krieg ist kein Fußball

Die Meldungen über tote russische Soldaten in der Zeitung haben für mich einen Anklang, als hätte Bielefeld gegen Bayern wieder ein Tor geschossen, und als könnten sie das Spiel nun gewinnen. Und man freut sich ein wenig mit der Häme des kleinen Mannes, dass dem Großkotz mal ordentlich einer eingeschenkt wird.

Aber es ist Krieg und jeder Pass, jedes Foul, jeder Torschuss lässt die Spieler verblutend zurück, es wird um sie herumgespielt, vielleicht hebt jemand ein Loch aus und verscharrt sie, man zieht mit neuen Spielern weiter zum nächsten Platz, weil der alte unbespielbar geworden ist, weil auch die Hälfte der Zuschauer dran glauben musste, hauptsächlich die Fans der Heimmannschaft natürlich, aber ein paar von der Gastmannschaft sind auch darunter.

Ladekanoniere

Beim Fernsehkanal der „Welt“ haben sie einen Militärexperten, Guido Schmidtke, der erklärt, wie die einzelnen Waffen funktionieren, Panzerabwehrwaffen, die man von der Schulter aus abfeuern kann. Und während die ihn anmoderiert haben, noch betroffen gucken, versinkt Guido in kaum kaschierter, rein sachlicher Begeisterung über die Möglichkeiten so einer Stinger-Rakete.

Bei der Kampfgruppe hatten wir früher Jeeps, auf denen Panzerfäuste XXL montiert waren. Die schossen rückstoßfrei, weil sie hinten offen waren und der Antriebsstrahl den Ladekanonier abgefackelt hätte, wäre der nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen.

Ich war Ladekanonier.

Die Granaten waren nur gefährlich, wenn der Richtschütze gut war. Selbstlenkende Granaten gab es bei der Kampfgruppe der Arbeiterklasse nicht.

Trefferquoten

Die Stinger können, wenn sie richtig bedient werden, eine Trefferquote von über 80 Prozent erzielen. Wenn man durch die Optik das Ziel erfasst hat, gibt es einen Ton und an der Wange vibriert es, und dann kann man abdrücken, den Rest erledigt die Rakete.

Die russischen Panzer sind so ausgestattet, dass sie keinen Ladekanonier brauchen, weil die Granaten automatisch nachgeladen werden, so dass sie theoretisch alle drei Sekunden einen Schuss abgeben können. Der Nachteil ist, dass die Munition im Innenraum direkt unter dem Turm gelagert werden muss, und wenn der Panzer gut getroffen wird, explodiert sie, sprengt den ganzen Turm weg, der oft viele Meter weit durch die Luft fliegt, und von der Mannschaft bleiben nur Fleischfetzen übrig.

Das muss in der Ukraine sehr häufig passiert sein.

Der Junge vor der Iskander

Und immer, wenn ich mich dabei erwische, dass ich mich darüber freue, wegen dieses Arminia-Bielefeld-gegen-Bayern-München-Gefühls, gehe ich in mein Zimmer an meine Fotowand und schaue mir diesen verpickelten jungen Mann an, in der Uniform der russischen Armee, mit einem Basecap als Mütze, fliehendem Kinn, kein hübscher Kerl, der bestimmt eine Menge Schwierigkeiten hatte, eine Freundin zu finden. Ich bete dann, dass er seine Militärdienstzeit glücklich überstanden hat und nicht in diesen unseligen Krieg ziehen musste.

Das Foto ist fast exakt vor zehn Jahren aufgenommen worden, in Moskau, nahe des Roten Platzes. Muss so der 7. Mai 2012 gewesen sein. Es war die Generalprobe für die Siegesparade am ден победы.

Tag des Sieges.

Er steht da, ein Kind noch, und schaut stur geradeaus, weil er nicht weiß, wie er mit mir, dem ihn fotografierenden Touristen, umgehen soll. Paar Meter weiter beäugt mich sein Unteroffizier, kaum älter als er, aber schon den vernichtenden Was-bist-du-denn-für-ein-Würstchen-Blick drauf. Der junge, verpickelte Soldat schaut dagegen verunsichert, weiche Augen, ein typischer Tretball für alle, die gerade jemanden suchen, um ihr Mütchen zu kühlen.

Im Hintergrund sieht man verschwommen das Fahrerhaus einer Monstermaschine, die Raketen tragen kann, Iskander, vier Minuten acht Sekunden von Kaliningrad bis Berlin. Die hat er bewacht.

Er ist ein junger, weißer Mann. Nun haben es junge Männer in der heutigen Welt eh oft schwer, aber wenn man dazu in so ein falsches System hineingeboren wird …, obwohl … so ein System einem auch Halt geben kann, das weiß ich wohl.

Kanonenfutter

Vor paar Tagen habe ich eine Statistik gesehen, von der ich nicht weiß, wer sie gefälscht hat, dass bisher niemand aus Moskau unter den toten russischen Soldaten wäre. Die meisten kämen aus Dagestan. Das liegt nördlich von Aserbaidschan und ist eine der ärmsten Regionen Russlands. 56% leben laut Wikipedia unter der Armutsgrenze.

In solchen Gegenden wird wahrscheinlich in allen Zeiten und allen Ländern das Kanonenfutter rekrutiert.

Von da bis Mariupol sind es über 1.200 km, für dortige Verhältnisse ein Katzensprung, in etwa ähnlich weit wie von hier bis Kiew. Was also interessiert einen aus Dagestan die Ukraine? Angeblich wussten viele Soldaten gar nicht, dass sie in der Ukraine gelandet waren, als man plötzlich auf sie schoss.

Und das war schon vor vierzig Jahren im Afghanistan-Krieg so. Alexijewitsch beschreibt das sehr eindrucksvoll in den „Zinkjungen“, die sie so nannte, weil sie in Zinksärgen zurückkamen. Der Soldat wurde gefragt, ob er mal den neuesten Panzer fahren wolle, dazu musste man Ja sagen, war somit ein Freiwilliger, der mit Wodka abgefüllt in ein Flugzeug verfrachtet wurde, und als er wieder aufwachte, fand er sich im Krieg mit den Mudschaheddin. War so sicher nicht die Regel, ist aber wohl passiert.

Fluch des Sieges

Was mich 2012 in Moskau erschreckt hat, war die Allgegenwärtigkeit von riesigen Plakaten mit alten, ordensgeschmückten Männern und den unvermeidlichen Losungen: Слава героям великой отечественной войны. Ruhm den Helden des Großen Vaterländischen Krieges.

Zu DDR-Zeiten haben wir das gerne verballhornt zur Rumbalotte. Ruhm und Ehre der baltischen Rotbannerflotte[1].

Im Fernsehen liefen auf allen Kanälen Kriegsfilme. „Die Befreiung“, „Im Morgengrauen ist es noch still“ und so weiter.

Damals bin ich an den alten Gedanken erinnert worden, dass so ein großer Sieg ein Fluch sein kann, wenn das Grundgefühl einer ganzen Nation daran hängt.

Wir hatten das Glück, unsere Vergangenheit hinter uns lassen zu können, auf alle Fälle haben wir keine Helden mehr, die wir ständig auf Schilder gehoben mit uns tragen müssen. Mag sein, dass es hier und da ganz schön wäre, weil Stefan Raab und Dieter Bohlen und Lena Meyer Landruth immer nur so zeitweise taugen, und eine Nation vielleicht ab und zu einen Helden oder eine Heldin (#SovielZeitmusssein!) braucht.

Aber wir müssen keine Richthofen oder Rommel oder Mansteins verehren oder aus Anlass der Sedans-Schlacht irgendwo antreten und rührende Gedenklieder singen. Gibt immer ein paar, und auf die muss man schon ein Auge haben, die bewaffnet durch die Wälder rennen und Krieg spielen.

Martin Buchholz hat mal in einem Kabarettprogramm in den Neunzigern gesagt:

Soll ja Leute geben, die ihr Vaterland lieben, aber muss man jede Perversion mitmachen?

Entnazifizierung

In Russland steht der Tag des Sieges bevor. Es ist der 77. Jahrestag. Putin steht anscheinend unter dem Druck, zu diesem Tag eine neue Art von Sieg verkünden zu müssen. Und er macht es nicht unter Entnazifizierung.

Manchmal bekomme ich auf Twitter kleine Filmschnipsel aus dem russischen Fernsehen geliefert, wo in Talkshows ganz normal aussehende Menschen darüber schwadronieren, dass auch Polen entnazifiziert werden müsse. Medwedjew hat angeblich geäußert, es müsse ein einheitlicher eurasischer Block her von Lissabon bis Wladiwostok, nachdem die Ukraine dasselbe Schicksal getroffen habe wie das dritte Reich, und die dortige Bevölkerung entsprechend umerzogen worden wäre.

Gibt bestimmt Nazis in der Ukraine. Gibt überall Nazis.

Tragödie oder Farce?

Marx hat in der Vorrede zur dritten Auflage des „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ einen berühmt gewordenen Satz gesagt, aus dem ich manchmal so etwas wie Hoffnung schöpfe. Marx schrieb:

„Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, …“ und, möchte ich hinzufügen, Putin für Stalin. Denn Putin ist keine neue Tragödie, er ist die Fortsetzung einer alten.

Die Neunziger waren für Russland wie für viele osteuropäische Länder schlimm. Fremde Mächte und einheimische Neureiche plünderten das Land und die Menschen aus, es gab Hunger und nichts zu kaufen, und es war Putin, der besonders den fremden Mächten einen Riegel vorgeschoben hat, nur um den Oligarchen eine obszöne Anhäufung von Reichtum zuzugestehen.

Verräter ausspucken wie Fliegen

Aber nun hat er gesagt, dass man Verräter ausspucken werde wie eine Fliege, die einem versehentlich in den Mund geflogen ist. Eine solche notwendige und natürliche Selbstreinigung werde das Land nur stärken. Das klingt sehr nach den alten Zeiten.

Marx schreibt weiter:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,…. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, … beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszenen aufzuführen.“

So scheint es auch in Russland zu sein. Erst haben sie eine große Idee im Terror ersäuft, und das ist unverzeihlich, auch wenn Stalins Paranoia ihre Gründe gehabt haben mag.

Und nun versuchen sie mit denselben Methoden, bestimmt verfeinert, etwas vom einstigen Weltreich zurückzuholen.

Keine AfR?

Schlimm ist, dass es keine Alternative zu geben scheint. In Palastrevolutionen haben sie keine Erfahrung und keine Tradition. Und sonst eine Idee für ein anderes Russland ist nirgendwo zu sehen. Keine Alternative für Russland.

Der junge Mann auf meinem Foto sieht auch nicht so aus, als würde er gerade eine ausbrüten.

Russland wird nicht zu einem zweiten Nordkorea, wie manche Journalisten schon mutmaßen, die gerne den ersten Gedanken aufschreiben, der ihnen in den Kopf kommt und der eine griffige Schlagzeile sichert.

Ich bin kein Putin Versteher, ich kenne ihn nicht. Aber ich gebe zu, bei der Krim nicht gezuckt zu haben, weil ich dachte: seit Katharina die Große sie erobert hat, war sie eher russisch; dass Chruschtschow sie in den Fünfzigern an die Ukraine übertrug, war völkerrechtlich auch nicht sauber. Aber innersowjetische Grenzverschiebungen haben damals niemanden weiter interessiert.

In den Filmen muss die Hauptfigur immer lernen sich zu entscheiden, eine Seite zu wählen, weil das nun einmal so funktioniert im Leben. Wenn es hart auf hart kommt, kommt es immer auch zum Schwur. Mag sein.

Aber dann schaue ich dieses Foto an und denke: Gott gib, dass dieser Kelch an diesem jungen, hoffentlich nicht mehr verpickelten Mann vorübergegangen ist.


[1] Ein ziemlich tätowierter Seebär liegt im Hospital. Zwei ältere Schwestern schwallen miteinander: „…und neulich hab ich ihn gebadet. Sogar auf der Motterkeule hat er ein Tattoo! Und da steht Rumbalotte drauf.“
Eine Lernschwester mit ziemlich viel Hüftgold hört das mit und sagt zu den beiden: „Was steht da? Rumbalotte? Wenn ich ihn wasche steht da: Ruhm und Ehre der baltischen Flotte!“