Böse wird es, als der Krieg kommt, und sich danach der Terror der Erschießungen breitmacht, auf beiden Seiten. Eine meiner Theorien über das Scheitern des sozialistischen Experiments läuft darauf hinaus, dass die Sowjetmacht vom Anfang her von Feinden umgeben war, die sie einfach plattmachen wollten. Aber selbst wenn da etwas dran sein sollte, ist es noch nicht mal ein Zehntel der Wahrheit.
Es war der sehr gute Film von Sergej Gerassimow, der letztens im MDR lief, der mich zur Lektüre des Buches inspiriert hat. Diese Menschen. Grigori und Aksinja sind das tragische Liebespärchen.
Aksinja ist mit Stepan verheiratet, der sie vernachlässigt und schlägt. Sie fängt ein Verhältnis mit Grigori an, es gibt Ärger, Grigori wird mit einer anderen, Natalja, verheiratet, die zwar hübsch ist, die er aber nicht liebt. Er brennt mit Aksinja durch, sie lassen ihr altes Dorf hinter sich und ziehen ein paar Werst weiter. Sie landen bei einem Kulaken, wird man später sagen, er verdingt sich als Kutscher, sie als Dienstmagd. Dann muss er seinen Wehrdienst, wie bei den Kosaken üblich, antreten. In der Zeit wird der Sohn des Gutsbesitzers, Jewgeni, sich an Aksinja heranmachen.
Ein Kind wird geboren, man weiß nicht so recht, wer der Vater ist, es stirbt wieder. Grigori kann nicht nach Hause kommen, der Krieg kommt ihm dazwischen. In einem Urlaub erfährt er von ihrem Verhältnis zum Gutsbesitzersohn und verstößt sie.
Ansonsten sind sowohl Grigori als auch Jewgeni mit dem Krieg beschäftigt. Jewgeni ist als Offizier eher ein Verteidiger der Monarchie. Grigori schlittert immer weiter in die bolschewistische Richtung, verdient sich aber auch seine Meriten als Soldat, wird Fähnrich, Hundertschaftsführer am Ende, mit Georgskreuzen überhäuft.
Jewgeni lernt die Frau eines Frontkameraden kennen. Er hält sich zurück, aber kurz darauf fällt der Freund und Jewgeni verspricht ihm, seine Frau Olga zu heiraten, was er auch tut. Wir sind jetzt schon im Bürgerkrieg 1918. Jewgeni hat einen Arm verloren und kehrt mit seiner neuen Frau auf das väterliche Gut zurück.
Grigori verlässt die Front ebenfalls, sie sind alle kriegsmüde. Er kommt nach Hause. Da muss Aksinja den Hof des Großbauern verlassen, weil man sie der neuen Frau Jewgenis nicht so recht zumuten kann.
Aber wie es der Teufel will, ist Stepan, Aksinjas Mann, von den Toten, wo man ihn wähnte, auferstanden. Er war in deutscher Gefangenschaft, und Aksinja zieht wieder zu ihm. Aber da ist immer noch Grigori, verhasst bei den Roten, weil er bei den Weißen Offizier war, und misstrauisch beäugt von den eigenen Leuten, weil er mit den Roten seine Zeit hatte.
Und als Leser weiß man, dass unruhige Zeiten kommen, in denen man schnell und leicht erschossen wird, ein kleiner Verdacht reicht oft.
Ich weiß, das Buch ist uralt.
Aber diese Zeiten haben mein Leben beeinflusst, mehr vielleicht als die unselige Nazizeit. Was die DDR gewesen ist, wurde auch dort bestimmt, am stillen Don. Lest alte Bücher. Legt euch in die Badewanne, macht euch ein paar Kerzen an und lest den Stillen Don. Hat nicht umsonst den Literatur-Nobelpreis gewonnen. Egal wer ihn geschrieben hat. Mir scheint der Gedanke, dass es ein verschollener weißgardistsicher Offizier gewesen sein muss, absolut plausibel. Ich versinke in diesen Welten, in dieser Liebe und dieser Grausamkeit und dieser Sprache wie in einem wunderbar stillen, etwas abgelegenen Waldsee. Ich fühle mich zuhause. Wahrscheinlich, naheliegenderweise, womöglich … ist es nicht der Don, an dem ich mich zuhause fühlen würde. Ich glaube, es ist diese Sprache, die Naturbeschreibungen, die Dialoge, die Beschimpfungen vielleicht, aus denen so viel Selbstvertrauen, Zugehörigkeit, Liebe spricht. Es mag eine unterdrückte, verdrängte Liebe sein, aber es ist trotzdem Liebe. Und dann kam das, was wir, meine Generation, als Oktoberrevolution verkauft bekommen haben. Eine große, brutale, rücksichtslose Transformation; ein Prügeln in die Moderne, ein gnadenloses Brechen mit jeder Tradition im Namen eines neuen, leuchtenden Menschenbildes, das sich nicht so ganz erfüllt hat, und aus Enttäuschung darüber haben wir so getan, als hätte es sich doch erfüllt (oder könnte sich jedenfalls noch erfüllen).
Ich lebe nicht am Don, sondern an der Panke. Da gibt es kein Eisbrechen im Frühjahr, das man meilenweit hören kann. Und ich kann nicht reiten. Reiten ist so ein Frauensport geworden. Ich liege bei Kerzenschein in der Badewanne und lese dieses Buch. Große, kraftvolle Literatur über Menschen, die oft weder lesen noch schreiben konnten.
Sehne ich mich in diese alten Zeiten zurück? Das wäre für mich noch herauszufinden. Auf alle Fälle habe ich das Gefühl zu verstehen, warum dieses große Experiment einer besseren Gesellschaft scheitern musste. „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak, „Leben und Schicksal“ von Wassili Grossmann, auch „Das achte Leben“ von einer damals 34-jährigen Georgierin namens Nino Haratischwili, oder „Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ von Swetlana Alexijewitsch, alles Bücher, die mir die gedanklichen Irrtümer meiner Jugend erklären. Oder eben jetzt: Тихий Дон.
Keine Ahnung, warum ich es ausgerechnet jetzt lese. Ich habe es aus dem Bücherregal meiner Mutter gezogen, als wir sie beerdigt haben. Ich weiß nicht einmal, ob sie es gelesen hat. Es hat einen roten Stern auf dem leinenen Buchrücken. Es ist verlegt im Verlag für fremdsprachige Literatur Moskau nach einer russischen Ausgabe von 1948. Und es ist unideologisch bis zur Selbstverleugnung.
Die Große Sozialistische Oktoberrevolution war nicht der Sturm aufs Winterpalais oder der Schuss vom Panzerkreuzer Aurora, sowenig wie Ernst Thälmann der Typ war, der sein Pausenbrot mit seinen Klassenkameraden geteilt hat. Sie war Blut und Tränen, Scheiße und Gewalt, Ideale und Neid und Missgunst. Ist sicherlich nichts Neues, wirst du sagen. Und mancher hat es schon immer gewusst. Nun … ich habe es nicht immer gewusst. Ich habe Timur und sein Trupp gelesen, und die Hexe Baba Jaga gesehen, und die Roten Rächer (красные мстители) bewundert. Und warum meine Eltern mir nichts anderes erzählt haben, weiß ich auch nicht. Angst? Hoffnung? Jedenfalls eine Zeit lang?
„Der süßliche, lockende Duft des Steinklees schläferte ihn ein, wandte ihn sanft der halbvergessenen Vergangenheit zu, zwang ihn noch einmal, das Herz der scharfen Klinge entschwundener Leidenschaften darzubieten. Einen bohrenden, zugleich aber süßen Schmerz verspürte Grigori, als er sich wieder auf den Schlitten zurücksinken ließ und mit der Wange die gelblichen Stengel des Steinklees berührte. Das von Erinnerungen ergriffene Herz blutete, schlug ungleichmäßig und verscheuchte den Schlaf auf lange Zeit.“
Möchte das nicht im Original lesen müssen. Großartig übersetzt jedenfalls von einem namentlich in der Herausgabe nicht erwähnten Menschen. Wie beim „Spiegel“ früher. Der Einzelne ist nichts. Das große Ganze alles.